Karl Sasserath leitet die Beratungsstelle Arbeit im Arbeitslosenzentrum Mönchengladbach. Er weiß also genau, wie die Situation beim Bürgergeld aussieht. Der Fachmann stemmte sich jetzt im Interview mit dem Magazin “Fokus” den Märchen über Bürgergeld-Bezieher entgegen.
Welche Probleme haben die Leistungsberechtigten?
Auf die Frage, warum diese Menschen zu ihm kämen, antwortet er: “Da gilt es, Behördenklauseln zu verstehen, Mietverträge genau zu lesen, zu schauen, wie das Existenzminimum gedeckt werden kann, wenn das Arbeitseinkommen nicht reicht. (…) Viele der Menschen, die zu uns kommen, sind sogenannte Aufstocker.”
Arbeiten, ohne davon leben zu können
Kaum jemand, der zu Sasserath kommt, ist arbeitslos. Im Gegenteil. Der Berater führt aus: Ich habe wirklich sehr detailliert Einblick und kann Ihnen sagen: Von dem, was diese Leute monatlich an Geld bekommen, können sie den Lebensunterhalt nicht bestreiten.”
Miete und Stromkosten sind kaum zu zahlen
Ein immenses Problem der Menschen, die er unterstützt, sind Sass zufolge die gestiegenen Wohn- und Stromkosten. Er sagt: “Denken Sie an die gestiegenen Wohnungskosten. Hier in Mönchengladbach haben wir es (…) mit einem Anstieg von über 40 Prozent in acht Jahren zu tun.
Viele Menschen müssen aus der Regelleistung von 563 Euro monatlich Beträge zwischen 50 und 200 Euro abzweigen, um die Miete zu bezahlen. Bedenken wir außerdem die gestiegenen Stromkosten in der Grundversorgung.”
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Es ist “grotesk und schlimm”
Sasserath bezieht scharf Stellung gegen die Hetzmärchen, die Leistungsberechtigte als faul darstellen. Im Interview sagt er: “Schlimm, wie da polemisiert und pauschalisiert wird. Als hätten wir Heerscharen von Menschen, die nichts anderes wollen, als den Sozialstaat auszubeuten.”
“Hohe Motivation zu arbeiten”
Laut Sasserath ist nämlich das exakte Gegenteil der Fall. Er sagt: “Fast alle, die zu uns kommen, haben eine hohe Motivation, zu arbeiten. Das soziale Netz, das wir hier in Deutschland haben, kennen sie aus ihrer Heimat so nicht. Aber den Solidargedanken schon.”
“Deutschland soll dankbar sein”
Statt gegen die Leistungsberechtigten zu hetzen, müsste man ihnen für ihre Arbeit danken. Sasserath erklärt auch warum: “Das sind die, die nachts unsere Büros putzen, damit wir uns morgens an einen sauberen Arbeitsplatz setzen können. Menschen, die für uns wie unsichtbar, wie nicht existent sind (…).”
Extrem harte Arbeit
Viele der Menschen, mit denen Sasserath zu tun hat, erledigen extrem harte Arbeit. Er erklärt im Fokus-Interview: “Wenn ich die Ware, die ich online bestellt habe, am nächsten Tag bekomme, hat das Gründe. Die sogenannten „Picker“ machen einen extrem harten, körperlichen Job. Picker sagt man, weil sie die bestellte Ware aus Hochregallagern herauspicken. In einem irrsinnigen Tempo.”
Arbeitsausbeutung statt “Faulheit”
Statt, wie die Lügenmärchen behaupten, auf der faulen Haut zu liegen, sind diese Leistungsberechtigten krasser Ausbeutung ausgesetzt. Der Berater erläutert: “Erst neulich ist ein Mann, der bei mir in der Beratung war, am Arbeitsplatz zusammengebrochen und mit dem Notarzt ins Krankenhaus gekommen. Als er aus dem Krankenhaus kam, fand er zu Hause die Kündigung vor. Wir führen hier sehr intensive Gespräche, wir bekommen solche Dinge wie Arbeitsausbeutung mit.”
Arbeiten bis zum Umfallen
Der Berater sagt, “dass es zynisch ist, zu behaupten, das Bürgergeld würde diese Menschen davon abhalten, einer Arbeit nachzugehen. Wir erleben genau das Gegenteil! Die Leute arbeiten bis zum Umfallen. Oft übrigens, ohne sich zu beklagen. Man muss da schon sehr intensiv und immer wieder nachhaken, bis mal sowas wie leise Kritik geäußert wird.”
Klare Ausbeutung
Die Leistungsberechtigten würden auf dem Arbeitsplatz ausgebeutet und zwischen den Behörden hin- und hergeschoben. Er beschreibt: “Wir sehen Beschäftigungsstrukturen, die ganz klar ausbeuterisch sind. (…) Darüber hinaus sehen wir Menschen, die (…) ein Drittel ihrer Zeit – kein Witz, das ist wirklich so – damit zubringen, zwischen den verschiedenen Behörden hin und her zu rennen.”
Bürokratie kostet und zermürbt
Sasserath sieht zudem, wie Menschen, die zu ihm kommen, von der Bürokratie zermürbt werden. Er skizziert den Alltag einer Alleinerziehenden im Leistungsbezug, die zur Wohngeldstelle rennt, “die bei der Kommune angesiedelt ist. Und zur Familienkasse, die zur Agentur für Arbeit gehört.
Also von insgesamt drei verschiedenen Stellen, bei denen dreimal exakt dieselben Unterlagen eingereicht werden müssen: der Arbeitsvertrag, die Lohnauszüge, der Mietvertrag, Schulbescheinigungen … für mich grenzt das an Schikane.”
Alles ginge einfacher
Dabei ließen sich diese Behördengänge vereinfachen. So gebe es in Lettland eine elektronische Akte mit einer Nummer – für alles. Sasserath fragt sich bisweilen, “ob unser System gezielt darauf angelegt ist, die Leute zu zermürben – bis sie aufgeben. Die Frage ist nur, wie das Deutschland, das wir kennen, dann noch funktionieren soll.”