Hartz IV-Amazon Skandal: Saure Gurke verliehen

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DGB Arbeitslosengruppe verleiht "saure Gurke" an Internet-Versandkonzern Amazon

22.02.2012

Die Gewerkschaftliche Arbeitslosengruppe im DGB-Kreisverband Bonn / Rhein-Sieg verleiht aus Anlass des elften arbeitsmarktpolitischen Aschermittwoches vor der Bonner Agentur für Arbeit die „Saure Gurke“ an den Leiter der deutschen Logistikzentren von Amazon.de. Hiermit dokumentieren wir die Erklärung zur "Preisverleihung":

"Wir überreichen Ihnen diese Auszeichnung in der Anlage (siehe Tupperdose). Sie haben sich den Preis durch Ihre offensive Ausnutzung der Notlage von Erwerbslosen mittels der Praxis kostenloser „Einarbeitungs-Praktika“ unter geschickter Ausnutzung öffentlicher Förderpolitik diverser Jobcenter redlich verdient. Letztere tragen insoweit für diese Praktiken Mitverantwortung, ebenso für die Verfestigung und Ausweitung der betont deregulierten und miesen Arbeitsbedingungen der Logistikzentren von Amazon.

Alljährlich zu Aschermittwoch verleiht die Gewerkschaftliche Arbeitslosengruppe im DGB Kreisverband Bonn / Rhein-Sieg die „Saure Gurke“, um damit eine öffentlich wirkende Persönlichkeit auszuzeichnen, die sich im zurückliegenden Jahr durch einen hervorragenden Beitrag zur „Beleidigung, Ausgrenzung oder weiteren Verschlechterung der sozialen Lage der Erwerbslosen“ hervorgetan hat (vgl. Geschäftsbericht 2001-2005 des DGB Bonn / Rhein-Sieg / Oberberg, S. 51). Die Preisträgerin für das Jahr 2010 war Bundesministerin Ursula von der Leyen. Auch Gerhard Schröder, Wolfgang Clement, Michael Rogowski, Dr. Peter Hartz, Franz Müntefering und Dr. Dieter Hundt gehörten schon zu den Preisträgern. Sie sehen, Sie befinden sich in prominenter Gesellschaft. Sie erhalten den Preis der „Sauren Gurke“ für das Jahr 2011 aus folgenden drei Gründen:

1. Nach den Kriterien unserer Jury hat sich der Versandhandel von Amazon Deutschland durch die Praxis preiswürdig erwiesen, insbesondere zu Boom-Zeiten wie der Vorweihnachtszeit 14-tägige unbezahlte Praktika vor eine Arbeitsaufnahme vorzuschalten. Dabei hat sich Amazon den eingesparten Lohn der Erwerbslosen über das jeweils zuständige Jobcenter als „Maßnahme zur Aktivierung und Wiedereingliederung“ bezahlen lassen. Diese Praxis hat in 2011 insbesondere an den Logistikzentren in Werne und Rheinberg, früher aber auch an den Logistikzentren Graben, Bad Hersfeld und Leipzig, stattgefunden. Von dieser obligatorische Vorschaltung lohnloser „Einarbeitungsphasen“ – bei einem vergleichsweise einfachen Tätigkeitsspektrum – haben Sie in nachgewiesenen Fällen auch nicht abgelassen, wenn diese schon im selben Logistikzentrum von Amazon gearbeitet hatten, vgl. Pressemitteilung des Erwerbslosen- Forums vom 21 November 2011 (1). Auch wenn Sie damit eine Gesetzeslücke ausnutzen (2), bewerten wir diese Praxis eindeutig so, dass Sie die Not- und Zwangslage von Erwerbslosen für betriebliches Lohndumping missbraucht haben. Zudem kann die Beschäftigungsperspektive, die Sie als Hintergrund für die Eingliederung in Arbeit von Erwerbslosen angeben, so gehaltvoll und stabil nicht sein. Auf die Frage von Spiegel online vom 1 Dezember 2011 (3), wie viele der 10.000 Saisonarbeitskräfte in 2011 „unbefristet übernommen werden“, antworteten Sie: „Erfahrungsgemäß werden pro Standort mehrere Hundert Mitarbeiter nach der Saison weiterbeschäftigt“. Sie haben damit nicht auf die Frage geantwortet, ob unbefristet beschäftigt bzw. Erwerbslose „dauerhaft in Arbeit integriert“ werden oder doch nur überwiegend befristet bzw. kurzfristig kündbar.

Wir wollen nicht verschweigen, dass nach unserer Auffassung an dieser von den Amazon Logistikzentren in Deutschland geübten Praxis von Mitnahmeeffekten nur die Spitze eines Eisberges auf dem Arbeitsmarkt sichtbar wird: Dies ist eine Fehlentwicklung, die der Öffnung für prekäre und atypische Beschäftigungsmodelle durch die sog. Hartz-IV-Reformen zu verdanken ist. Unter dieser Fehlentwicklung leiden Erwerbslose um so häufiger und härter, da sie durch die Sanktionspolitik der Arbeitsverwaltung zu prekärer Arbeit gezwungen werden können.

2. Entgegen Ihren Bekundungen in Spiegel-Online vom 1. Dezember 2011 (3), dass Saisonarbeiter- „pro Standort werden mehrere Hundert Mitarbeiter weiter beschäftigt“ – einen festen Arbeitsplatz erhalten, sah die Realität beispielsweise am Standort Bad Hersfeld völlig anders aus. Dort hatten von Januar bis September 2011 von 3.700 MitarbeiterInnen 2.100 nur einen befristeten Arbeitsvertrag, ab September bis Weihnachten waren sogar ca. 80 % des Personals befristet. Allerdings wurden laut einem Mitarbeiter von Verdi/Hessen am Standort Bad Hersfeld erst ab Januar 2012 1.170 Saisonkräfte aus dem Weihnachtsgeschäft unbefristet übernommen. Es fällt dabei aber auf, dass darunter überwiegend jüngst eingestellte Personen sind, die erst nach einer Beschäftigungszeit von 6 Monaten unter den Kündigungsschutz fallen. Selbst „Co- Workers“, wie Vorarbeiter bei Amazon heißen (4), werden nur befristet beschäftigt. Während bei vergleichbaren Arbeitgebern im Versandhandel Mitarbeiter den Tariflohn im Einzel- und Versandhandel zwischen 11,47 und 11,94 Euro erhalten, zahlen Sie Ihren Mitarbeitern lediglich zwischen 9,65 und 11,12 Euro. In den neuen Ländern sind es z.B. am Standort Leipzig zu Beginn nur 7,76 und am Ende 8,65 Euro. Selbstverständlich ist von 2006 bis September 2011 bei allen Logistikzentren von Amazon keine Lohnerhöhung erfolgt (5).

Es verwundert auch nicht, dass Sie Ihren Mitarbeitern generell Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld und vermögenswirksame Leistungen sowie tarifliche Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit und Einmalzahlungen vorenthalten (6). Auch andere Arbeits- und Vertragsbedingungen sind teilweise rechtlich mehr als bedenklich, denn „laut Arbeitsvertrag kann Amazon während der ersten drei Monate den Vertrag mit einer Frist von einem Tag kündigen. Nach Ablauf der ersten drei Monate beginnt dann erst die sechsmonatige Probezeit“ (7). Zudem wurden MitarbeiterInnen in Rheinberg unter Androhung der Kündigung gezwungen sieben Tage die Woche zu arbeiten (8). Unmenschlich sind auch Kontrollsysteme, die für das Aufsuchen der Toilette eine Abmeldung erforderlich machen oder Versuche, private Gespräche am Arbeitsplatz zu untersagen (9).

3. Nicht unerwähnt lassen wollen wir auch einige problematische Geschäftspraktiken Ihres Unternehmens: Den Vorwurf, den Sozialstaat auszunutzen, der Erwerbslosen pauschal gemacht wird, reichen wir Amazon aus guten Grund weiter! Fast 1 Million Euro, die Sie durch Ihre Praxis der unbezahlten Praktika für Erwerbslose im Jahre 2010 laut der Regionaldirektion NRW der Arbeitsagentur an Löhnen gespart haben (10), ging zu Lasten des Steuer- und Beitragzahlers. Während hier Gelder für die Subventionierung von Amazon ausgegeben wurden, ohne dass die betroffenen Erwerbslosen eine realistische Aussicht auf eine langfristige und existenzsichernde Arbeit bekamen, fehlten diese u.a. für durchaus aussichtsreich erscheinende Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten bei den Arbeitsagenturen.

Tief in die Tasche greifen musste der Steuerzahler auch, als Amazon seine wirtschaftliche Macht als Großunternehmen bei der Standortpolitik ausspielte – so war z. B. offensichtlich jüngst das „Absahnen-Können“ von Landesmitteln und regionalen Mitteln der Wirtschaftsförderung ein gewichtiger Grund, sich in Koblenz und Pforzheim niederzulassen (11).

Ein Langzeiterwerbsloser hat dagegen kaum mehr die Chance, an Gelder für eine Existenzgründung zu kommen, während sich Lokalpolitiker von der Aussicht auf vermeintliche Arbeitsplätze bei Amazon blenden lassen. Aber auch die Praktiken Ihrer Firma, ausgedehnt mit Fristverträgen zu operieren und die Tariflöhne des Einzel- und Versandhandels zu unterlaufen, kommen nicht nur die Betroffenen teuer zu stehen – einem Packer bei Amazon entgehen einschließlich Wechselschichtzulage laut Verdi bis zu 4.228 Euro im Jahr! – (12), sondern die gesamte Gesellschaft, wenn man bedenkt, wie viele Sozialabgaben dadurch verloren gehen und welche Kosten entstehen, wenn dann später die Rente womöglich nicht reicht.

Diese sowohl für Erwerbslose als auch für Ihre Beschäftigten und letztlich für alle Bürger unakzeptablen Geschäftspraktiken sind ein weiterer guter Grund, Ihnen die diesjährige „Saure Gurke“ zu verleihen. Wir wünschen Ihnen einen guten Appetit!"

Alljährlich zu Aschermittwoch verleiht die Gewerkschaftliche Erwerbslosengruppe im DGB Bonn / Rhein-Sieg die „Saure Gurke“, um damit eine öffentlich wirkende Persönlichkeit auszuzeichnen, die sich im zurückliegenden Jahr durch einen hervorragenden Beitrag zur „Beleidigung, Ausgrenzung oder weiteren Verschlechterung der sozialen Lage der Erwerbslosen“ hervorgetan hat.

Anhang:
(1) Pressemitteilung des Erwerbslosenforums.de vom 21 November 2011
skandal-weitet-sich-aus-609033.php
(2) www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,8000166,00.html
(3) www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,800778,00.html
(4) siehe (1)
(5) http://www.amazon-verdi.de/hintergrunde/
(6) http://www.verdi.de/themen/arbeit/++co++3331a3c2-ffbc-11e0-4aa8-0019b9e321cd
(7) https://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/hartz-iv-amazon-skandal-weitet-sich-aus-609033.php
(8) )
(9) siehe (1)
(10) siehe (1)
(11) PM vom 15.12.12. http://www.golem.de/1112/88468.html
(12) http://www.verdi.de/themen/arbeit/++co++3331a3c2-ffbc-11e0-4aa8-0019b9e321cd

Bild: berwis / pixelio.de

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