Eine Schwerbehinderung kann auch rückwirkend festgelegt werden, wie ein Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel bestätigt.
„Für die behördliche Erstfeststellung, dass ein GdB von 50 bereits zu einem Zeitpunkt vor der Antragstellung vorgelegen hat, ist nur die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich; eine solche rückwirkende Feststellung ist nicht auf offensichtliche Fälle beschränkt.“
Nach diesem Leitsatz entschied das Bundessozialgericht und gab einem Betroffenen Recht, der forderte, dass seine Schwerbehinderung bereits für einen Zeitpunkt anzuerkennen sei, der lange vor seinem Antrag lag. (B 9 SB 3/10 R)
Inhaltsverzeichnis
Nach schwerem Leiden schwerbehindert
Der Betroffene ist Arzt für Biochemie. Nachdem er an Blasenkrebs erkrankte, der Metastasen streute, und nachdem er mehrfach operiert werden musste, bezog er inzwischen eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit Abschlägen.
Arzt beantragt rückwirkende Anerkennung seiner Schwerbehinderung
Er beantragte, seinen Grad der Behinderung rückwirkend ab November 2000 anzuerkennen statt ab 2002. Nach der Heilungsbewährung und seinem Widerspruch wurde bei ihm ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt.
Doch den Grad der Behinderung für die Zeit vor dem Widerspruch anzuerkennen, wies das zuständige Land ab.
Rückwirkende Anerkennung ist auf offensichtliche Fälle zu begrenzen
Er klagte vor dem Sozialgericht Berlin, um seinen Anspruch durchzusetzen. Diese Klage blieb ohne Erfolg. Die Richter entschieden, dass die Feststellung einer Schwerbehinderung in die Zukunft wirke und ab Antragstellung gelte. Eine rückwirkende Anerkennung sei hingegen auf offenkundige Fälle zu beschränken. Die bösartige Tumorerkrankung sei bei ihm erst ab 2002 offenkundig gewesen.
Keine aussagekräftigen Unterlagen
Die Richter führten aus: „Für die Zeit davor fehle es an aussagekräftigen medizinischen Unterlagen, so dass die vom Kläger behauptete Tatsache, er sei bereits im Mai 2000 wegen Teerstühlen und Schwächeanfällen schwerbehindert gewesen, nicht als offenkundig gelten könne.“
Die Berufung scheitert
Der Betroffene legte Berufung vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ein. Auch dieses wies die Klage zurück, ließ aber eine Revision zu.
Die Richter begründeten dies folgendermaßen: „Für eine weitergehende Rückwirkung sei (…) nur dann Raum, wenn der Betroffene ein besonderes Interesse für eine frühere Statusentscheidung glaubhaft machen könne. Eine solche Rückwirkung müsse jedoch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) überdies auf offenkundige Fälle beschränkt werden, um den Sinn und Zweck einer Statusentscheidung nicht zu konterkarieren.“
Besonderes Interesse ja, Offenkundigkeit nein
Das besondere Interesse sei zwar vorhanden. Denn bei einer rückwirkenden Anerkennung ab dem Jahr 200 stehe ihm eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen zu. Es handle sich aber nicht um einen offenkundigen Fall.
Erfolg vor dem Bundessozialgericht
Der Arzt ging vor das Bundessozialgericht, um das Urteil revidieren zu lassen. Hier hatte er schließlich Erfolg. Er argumentierte, die Schwerbehinderteneigenschaft beginne dann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür erfüllt seien, und dies beziehe sich nicht nur auf offenkundige Fälle.
Betroffener beklagt Rechtsverletzung
Außerdem wies er auf Verfahrensfehler hin. So habe das Landessozialgericht sein Recht auf rechtliches Gehör verletzt und seinen Vortrag über den Schweregrad des Tumors und die Situation ab Mai 2000 übergangen habe. Es habe auch die Amtsermittlungspflicht verletzt, da es gestellten Beweisanträgen zu Unrecht nicht gefolgt sei.
Das Landessozialgericht muss die Tatsachen prüfen
Die Richter am Bundessozialgericht entschieden: „Entgegen der Auffassung des LSG ist der Anspruch des Klägers auf rückwirkende GdB-Feststellung nicht aus Rechtsgründen ausgeschlossen. Für die Entscheidung, ob der Anspruch begründet ist, bedarf es weiterer einzelfallbezogener Tatsachenfeststellungen, die das LSG noch zu treffen hat.“
Ein besonderes Interesse ist vorhanden und Offenkundigkeit nicht notwendig
Ein besonderes Interesse, nämlich der Bezug einer abschlagsfreien Altersrente, sei vorhanden. „Eine Beschränkung der rückwirkenden Feststellung des GdB durch ein Erfordernis der Offenkundigkeit hat das BSG allein für den Fall angenommen, dass (…) die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit zu prüfen ist.“ Dies beziehe sich also nicht auf rückwirkende Anerkennung bei einer Erstfeststellung des GdB.
Landessozialgericht unterlässt wegen falscher Annahme die notwendige Ermittlung
Das Landessozialgericht sei also fälschlich davon ausgegangen, dass die Schwerbehinderung zum entsprechenden Zeitpunkt hätte offensichtlich sein müssen. Aufgrund dieser falschen Annahme hätten die Richter es unterlassen, „den Gesundheitszustand des Klägers in dem streitigen Zeitraum unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel aufzuklären.“
Dazu verpflichtete das Bundessozialgericht die vorhergehende Instanz und diese musste jetzt ermitteln, ob im Jahr 2000 bereits eine Schwerbehinderung vorgelegen hatte.