Das Hessische Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt hat mit Urteil (Az.: L 5 R 226/18) eine fรผr teilweise erwerbsgeminderte Arbeitnehmer wegweisende Entscheidung getroffen. Ein Bauzeichner, der aufgrund einer psychischen Erkrankung seine bisherige Tรคtigkeit nicht mehr ausรผben konnte, hatte keine Teilzeitstelle gefunden.
Das Urteil zeigt, unter welchen Bedingungen teilweise erwerbsgeminderte Versicherte Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente haben kรถnnen โ insbesondere, wenn ihnen der Teilzeitarbeitsmarkt praktisch verschlossen ist.
Inhaltsverzeichnis
Wie unterscheiden sich beide Rentenarten?
Erwerbsminderung wird im deutschen Rentenrecht durch ยง 43 SGB VI geregelt und unterscheidet zwischen:
- Teilweiser Erwerbsminderung: Arbeitnehmer kรถnnen noch drei bis unter sechs Stunden tรคglich unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten.
- Voller Erwerbsminderung: Arbeitnehmer sind weniger als drei Stunden tรคglich arbeitsfรคhig oder kรถnnen aufgrund eines verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes ihre Arbeitskraft nicht einsetzen.
Im vorliegenden Fall beantragte der Versicherte eine Erwerbsminderungsrente, da er nur noch drei bis sechs Stunden arbeitsfรคhig war. Die zentrale Frage des Verfahrens war, ob die Rentenzahlung auf eine teilweise Erwerbsminderung beschrรคnkt bleibt oder ob aufgrund eines verschlossenen Arbeitsmarktes ein Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente besteht.
Verschlossener Teilzeitarbeitsmarkt?
Das Konzept der โArbeitsmarktrenteโ besagt, dass teilweise erwerbsgeminderte Arbeitnehmer Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente haben, wenn sie ihre Restarbeitskraft aufgrund der Arbeitsmarktlage faktisch nicht einsetzen kรถnnen. Der Teilzeitarbeitsmarkt gilt als verschlossen, wenn:
- Innerhalb eines Jahres nach Rentenantrag weder die Rentenversicherung noch das Arbeitsamt einen geeigneten Arbeitsplatz bereitstellen kรถnnen.
- Die Arbeitsmarktlage es dem Versicherten praktisch unmรถglich macht, eine entsprechende Teilzeitstelle zu finden.
Im Fall des Bauzeichners konnte weder der Rentenversicherungstrรคger noch das Arbeitsamt eine geeignete Teilzeitstelle anbieten. Somit galt der Teilzeitarbeitsmarkt als verschlossen, und der Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente bestand rรผckwirkend ab dem Zeitpunkt der Antragstellung.
Welche Verpflichtungen bestehen gegenรผber dem Arbeitgeber?
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Urteils betrifft die Frage, ob Arbeitnehmer vor Beantragung der Rente verpflichtet sind, ihren Arbeitgeber um einen Teilzeitarbeitsplatz zu bitten. Das LSG stellte klar:
- Es besteht keine Verpflichtung, vor dem Rentenantrag einen Antrag auf Verringerung der Arbeitszeit oder Bereitstellung eines Teilzeitarbeitsplatzes zu stellen.
- Entscheidend ist vielmehr, ob ein geeigneter Teilzeitarbeitsplatz objektiv verfรผgbar ist.
Das Urteil stรคrkt damit die Position erwerbsgeminderter Arbeitnehmer und entlastet sie von zusรคtzlichen Hรผrden im Antragsverfahren.
Welche Ausnahmen gibt es?
Der Teilzeitarbeitsmarkt gilt nicht als verschlossen, wenn:
- Der Versicherte eine Teilzeitstelle ausรผbt und mehr als geringfรผgige Einkรผnfte erzielt.
- Ein geeigneter Arbeitsplatz angeboten wird, der jedoch ohne triftigen Grund abgelehnt wird.
Im Fall des Bauzeichners lagen keine dieser Ausnahmen vor.
Warum ist dieses Urteil von Bedeutung?
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts hat weitreichende Implikationen fรผr die Auslegung von Erwerbsminderungsrentenansprรผchen:
- Rechtsklarheit: Es prรคzisiert die Bedingungen, unter denen teilweise erwerbsgeminderte Arbeitnehmer Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente haben.
- Stรคrkung der Arbeitnehmerrechte: Das Urteil entlastet Betroffene von der Verpflichtung, aktiv nach Teilzeitarbeitsplรคtzen zu suchen oder ihren Arbeitgeber um eine Reduktion der Arbeitszeit zu bitten.
- Soziale Absicherung: Versicherte, die ihre Restarbeitskraft aufgrund der Arbeitsmarktlage nicht nutzen kรถnnen, erhalten eine angemessene soziale Absicherung.
Was bedeutet das Urteil fรผr betroffene Arbeitnehmer?
Fรผr Arbeitnehmer mit eingeschrรคnkter Erwerbsfรคhigkeit bedeutet dieses Urteil:
- Es lohnt sich, bei Ablehnung einer vollen Erwerbsminderungsrente die Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes zu prรผfen.
- Die Jahresfrist zur Arbeitsplatzvermittlung sollte genau dokumentiert werden.
- Betroffene sollten sich rechtzeitig rechtlichen Beistand holen, um ihren Anspruch durchzusetzen.
Fazit
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts zeigt, dass der Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente nicht allein von der medizinischen Beurteilung der Arbeitsfรคhigkeit abhรคngt, sondern auch von der tatsรคchlichen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Dies ist insbesondere fรผr Arbeitnehmer von Bedeutung, die trotz Teilzeitarbeitsfรคhigkeit faktisch keine Chance auf eine passende Stelle haben.
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