Jobcenter verklagen? Bürgergeld-Bezieher erringt wegweisendes Urteil

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Wer Bürgergeld bezieht und sich vom Jobcenter falsch behandelt fühlt, sucht oft zuerst das Gespräch, schreibt Beschwerden oder wendet sich an die Aufsicht. Doch was passiert, wenn die zuständige Landesbehörde aus Sicht der Betroffenen nicht reagiert oder nicht eingreift? Genau an dieser Stelle beginnt häufig ein zweites Problem: Nicht der Inhalt des Streits steht am Anfang, sondern die Zuständigkeit der Gerichte.

Müssen solche Auseinandersetzungen vor das Verwaltungsgericht – oder vor die Sozialgerichte, die sonst über Bürgergeld-Leistungen entscheiden?
Mit Beschluss vom 20. November 2025 (Az. L 1 SV 741/25 B) hat das Thüringer Landessozialgericht diese Weichenstellung deutlich in Richtung Sozialgerichtsbarkeit gestellt. Die Entscheidung war überaus wichtig: Sie kann vermeiden helfen, dass Verfahren monatelang zwischen Gerichtsbarkeiten hin- und hergeschoben werden, während die Betroffenen auf Klärung warten.

Der Hintergrund des Verfahrens

Im Ausgangspunkt ging es nicht um einen klassischen Bescheid über Bürgergeld, also nicht um die Höhe einer Zahlung oder eine Sanktion. Anlass war vielmehr der Vorwurf eines Klägers, ein Jobcenter habe sich pflichtwidrig verhalten.

Der Kläger wandte sich deshalb an die zuständige Landesbehörde, die im System der Grundsicherung eine Aufsichtsfunktion gegenüber bestimmten Jobcentern beziehungsweise Trägern ausübt. Nach einem Gespräch, in dem nach Darstellung des Klägers eine Klärung in Aussicht gestellt worden sei, habe sich aus seiner Sicht nichts bewegt. Daraufhin erhob er Klage beim Sozialgericht Altenburg.

Dieses Sozialgericht hielt sich allerdings nicht für zuständig. Es verwies den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27. August 2025 an das Verwaltungsgericht Weimar.

Der Gedanke dahinter: Wenn nicht die Leistungsgewährung selbst, sondern das Verhalten einer Aufsichtsbehörde im Streit steht, könne das eher dem allgemeinen Verwaltungsrecht zugeordnet werden. Gegen diese Verweisung legte der Kläger Beschwerde ein – und damit landete die Sache beim Thüringer Landessozialgericht.

Die Entscheidung des Thüringer Landessozialgerichts

Das Landessozialgericht hob die Verweisung des Sozialgerichts Altenburg auf. Es stellte damit klar, dass für den Streit der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist. Anders gesagt: Das Verfahren gehört grundsätzlich in die Sozialgerichte und nicht in die Verwaltungsgerichte.
Wichtig ist dabei, was ein solcher Beschluss leistet – und was nicht.

Er beantwortet zunächst die Frage nach dem richtigen Gerichtszweig. Ob die Aufsichtsbehörde tatsächlich verpflichtet ist, tätig zu werden, entscheidet er damit noch nicht. Trotzdem ist die Zuständigkeitsfrage mehr als eine Formalie: Ohne sie läuft ein Verfahren Gefahr, sich in Zuständigkeitsdebatten zu verlieren, statt inhaltlich geprüft zu werden.

Warum die Zuständigkeitsfrage für Betroffene so viel bedeutet

Juristisch ist der „Rechtsweg“ die Tür, durch die ein Verfahren überhaupt in die richtige Gerichtsbarkeit gelangt. Praktisch entscheidet er darüber, ob ein Rechtsstreit schnell in die Sache kommt oder erst einmal wandert.

Für Menschen, die von Leistungen nach dem SGB II abhängig sind, kann diese Zeit besonders belastend sein. Schon eine Verweisung an ein anderes Gericht kann zu Verzögerungen führen, etwa durch neue Fristen, erneute Anhörungen oder schlicht durch Wartezeiten in einem anderen Gerichtssystem.

Hinzu kommt ein rechtsstaatlicher Punkt: Das Grundgesetz schützt den Anspruch auf den „gesetzlichen Richter“. Dahinter steht die Idee, dass nicht nach Belieben entschieden wird, welches Gericht zuständig ist, sondern dass Zuständigkeiten vorher festgelegt sind.

Wenn sich Gerichte über längere Zeit uneinig sind, kann das Vertrauen in den Rechtsschutz leiden – und genau hier setzt die Entscheidung an, indem sie die Zuordnung im Bereich der Grundsicherung sehr weit versteht.

Der rechtliche Maßstab: § 51 SGG als Tür zur Sozialgerichtsbarkeit

Das Thüringer Landessozialgericht knüpft an eine Linie an, die die Sozialgerichtsbarkeit im Bereich der Grundsicherung bewusst breit fasst. Maßgeblich ist § 51 Absatz 1 Nummer 4a Sozialgerichtsgesetz. Danach entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten „in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ nach dem SGB II.

Erfasst sind also nicht nur typische Leistungsstreitigkeiten mit dem Jobcenter, sondern auch solche Auseinandersetzungen, in denen die vom Kläger gewünschte Rechtsfolge ihre Grundlage im SGB II haben kann.

Das Thüringer Landessozialgericht macht in seinem Leitsatz deutlich, dass damit die gesamte Verwaltungstätigkeit der Behörden, die auf Grundlage des SGB II handeln, in diesen Bereich fallen kann. Dazu zählt nach der Entscheidung ausdrücklich auch die Ausübung der Rechtsaufsicht, soweit sie ihre Grundlage im SGB II hat.

Damit verschiebt sich der Blick weg von der Frage „Geht es um Sozialleistungen?“ hin zu der Frage „Woraus leitet sich der Anspruch ab?“ Wenn die rechtliche Basis im SGB II liegen kann, soll die Sozialgerichtsbarkeit zuständig sein.

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Rechtsaufsicht über Jobcenter: Was das im SGB II bedeutet

Das System der Grundsicherung für Arbeitsuchende kennt unterschiedliche Organisationsformen. Neben gemeinsamen Einrichtungen gibt es zugelassene kommunale Träger, die bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung wahrnehmen. Für diese zugelassenen kommunalen Träger regelt § 48 SGB II die Aufsicht: Sie obliegt den zuständigen Landesbehörden.

In Thüringen ist die Zuständigkeit der Landesverwaltung zudem landesrechtlich ausgestaltet.

Für Betroffene wirkt das oft widersprüchlich: Das Jobcenter ist die Behörde, die den Alltag prägt – Anträge, Nachweise, Termine, Entscheidungen. Die Aufsicht sitzt dagegen in einer Landesbehörde und wird meist erst dann sichtbar, wenn Beschwerden eingelegt werden.

Ob und wie eine Aufsichtsbehörde reagiert, hängt von vielen Faktoren ab, etwa von der rechtlichen Einordnung des Vorwurfs und davon, welche Befugnisse das Aufsichtsrecht im konkreten Fall eröffnet.

Die Entscheidung des Landessozialgerichts ordnet den Streit über ein mögliches Einschreiten dieser Aufsicht rechtlich so ein, dass er zur Grundsicherung nach dem SGB II gehört.

Damit soll die gleiche Gerichtsbarkeit zuständig sein, die auch die eigentlichen Leistungsstreitigkeiten beurteilt. Das ist konsequent, weil die Aufsichtsbefugnisse nicht irgendwo im Verwaltungsrecht „frei schweben“, sondern gesetzlich im SGB II verankert sind.

Die Logik hinter dem Beschluss: Es genügt die mögliche Grundlage im SGB II

Das Thüringer Landessozialgericht übernimmt in der Sache einen bekannten Ansatz aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Maßgeblich ist nicht, ob der Kläger am Ende tatsächlich einen durchsetzbaren Anspruch auf ein Eingreifen der Aufsicht hat. Für die Rechtswegfrage genügt, dass die begehrte Rechtsfolge ihre Grundlage im SGB II haben kann. Das verhindert, dass die Zuständigkeitsfrage zu einer Vorprüfung der Erfolgsaussichten wird.

Gerade bei Aufsichtsfragen ist das entscheidend. Denn ob eine Behörde einschreiten muss, ist häufig rechtlich komplex. Es kann um Ermessensspielräume gehen, um die Abgrenzung zwischen Dienstaufsicht und Rechtsaufsicht, um die Frage, ob überhaupt ein subjektives Recht des Einzelnen auf Aufsichtstätigkeit besteht, und um die Schwelle, ab der Untätigkeit rechtswidrig wird. Würde man all das bereits im Rahmen der Rechtswegprüfung entscheiden, würde der Zugang zu den Gerichten faktisch erschwert. Der Beschluss setzt dem eine klare, prozessfreundliche Linie entgegen.

Was der Beschluss ausdrücklich nebenbei klärt: Befangenheitsanträge brauchen geeignete Gründe

Neben der Rechtswegfrage befasst sich die Entscheidung mit einem Befangenheitsantrag. Auch hier wählt das Gericht eine deutliche Formulierung: Ein Befangenheitsantrag ist „offensichtlich unzulässig“, wenn er ausschließlich auf Gründe gestützt wird, die zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit von vornherein ungeeignet sind.

Für Leistungsbeziehende ist das ein wichtiger Hinweis, weil Befangenheitsanträge in angespannten Verfahren schnell als „letztes Mittel“ erscheinen.

Die Hürden sind aber hoch. Es reicht nicht, pauschal Unzufriedenheit mit früheren Entscheidungen zu äußern oder dem Gericht allgemein Fehler vorzuwerfen. Es muss um Umstände gehen, die aus Sicht einer vernünftigen, unbeteiligten Person Zweifel an der Unparteilichkeit im konkreten Verfahren begründen können. Der Leitsatz signalisiert, dass Gerichte in klar gelagerten Fällen nicht lange in eine inhaltliche Prüfung einsteigen, sondern einen unzulässigen Antrag zügig zurückweisen.

Was die Entscheidung nicht entscheidet

So hilfreich die Klarstellung zum Rechtsweg ist: Sie ist nicht gleichbedeutend mit einem „Sieg“ in der Sache. Der Beschluss beantwortet nicht, ob das zuständige Ministerium tatsächlich verpflichtet war, dem Kläger zu helfen, das Jobcenter zu rügen oder Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso wenig legt er fest, welche konkreten Schritte eine Aufsichtsbehörde bei Beschwerden einzuleiten hat oder wie schnell sie reagieren muss.

Für Betroffene heißt das: Die Tür zum richtigen Gerichtszweig steht offen, doch der Weg durch das Verfahren bleibt anspruchsvoll. Wer eine Aufsichtsbehörde zum Tätigwerden bewegen will, muss in der Regel sehr genau darlegen, welches Verhalten beanstandet wird, welche Rechtsnormen betroffen sein könnten und weshalb daraus ein einklagbares Recht folgen soll. Ob es einen solchen Anspruch im Einzelfall gibt, ist eine andere Frage als die Zuständigkeit – und darüber wird erst im nächsten Schritt entschieden.

Einordnung: Warum diese Linie die Sozialgerichtsbarkeit stärkt

Die Entscheidung passt in eine Entwicklung, die die Zuständigkeit der Sozialgerichte im SGB II weit versteht. Das hat zwei Effekte. Zum einen bündelt es SGB-II-nahe Konflikte bei einer Gerichtsbarkeit, die täglich mit der Materie arbeitet. Zum anderen reduziert es Reibungsverluste, wenn Streitigkeiten nicht mehr danach sortiert werden, ob sie „klassisch“ nach Leistung aussehen, sondern danach, ob sie rechtlich aus dem Gefüge des SGB II stammen.

Für die Praxis der Beratung ist das relevant. Wer Klage erhebt, muss nicht nur seine Argumente kennen, sondern auch das richtige Gericht anrufen. Fehlgriffe können Zeit kosten. Der Beschluss aus Thüringen gibt für Streitigkeiten rund um die Aufsicht nach dem SGB II eine klare Richtung vor.

Quellen

Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 20.11.2025, Az. L 1 SV 741/25 B, Dokumentation (Landesrecht Thüringen).
„LSG Thüringen, Beschluss v. 20.11.2025 – L 1 SV 741/25 B“, Dokumentvorschau mit Leitsätzen und Normenhinweisen. Gesetzestexte: Sozialgerichtsgesetz (SGG) § 51; SGB II § 48; Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) § 40.