Eine 51-jรคhrige Frau aus Baden-Wรผrttemberg leidet an spinaler Muskelatrophie, ist beatmungspflichtig und rund um die Uhr auf professionelle Intensivpflege angewiesen. Seit Jahren kommt ein spezialisierter Pflegedienst jeden Tag 24 Stunden in den Haushalt ihrer Schwester.
Die Krankenkasse bezahlt 21,98 Stunden Behandlungspflege, die Pflegekasse steuert den Hรถchstsatz von 1.612 Euro aus Pflegegrad 4 bei. รbrig bleiben Monat fรผr Monat Rechnungen zwischen 6.000 und 9.000 Euro.
Genau diesen Rest wollte die Frau vom Sozialamt erstattet haben โ doch das Landessozialgericht (LSG) Baden-Wรผrttemberg lehnte das ab (Urteil vom 15. April 2025, Az. L 7 SO 2315/23).
Die 104-Minuten-Regel
Streitgegenstand war die alte Formel des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2010. Damals legten die Richter fest, dass sich Krankenkasse und Pflegekasse die Grundpflege hรคlftig teilen mรผssen, wenn eine Fachkraft ohnehin dauerhaft anwesend ist.
Frรผher bestimmten MDK Gutachten den tatsรคchlichen Minutenbedarf. Seit 2017 gibt es in den neuen Pflegegraden aber keine Zeitwerte mehr. Um die BSG-Formel fortzufรผhren, setzte der Gesetzgeber Pauschalen fest โ und verankerte fรผr Pflegegrad 4 exakt 104 Minuten reine Grundpflege pro Tag in den Kostenabgrenzungsrichtlinien. Das LSG stรผtzte sich nun genau auf diesen Wert.
Warum das Sozialamt nur einen Teil der Kosten รผbernimmt
Aus den 104 Minuten macht das Gericht zwei Hรคlften. Die Pflegeversicherung deckt 52 Minuten, das Sozialamt soll die รผbrigen 52 Minuten zahlen, allerdings nicht zum vom Pflegedienst abgerechneten Modulpreis, sondern zum Stundensatz, den derselbe Dienst mit der Krankenkasse fรผr Behandlungspflege vereinbart hat.
Der Effekt ist schlimm: Statt sechs bis neuntausend Euro Monatsrest zahlt das Amt โ je nach Jahr โ lediglich 373 bis gut 1.200 Euro. Die Richter argumentieren, dass der Sozialhilfetrรคger nicht an private Modulpreise gebunden ist, solange keine eigene Vergรผtungsvereinbarung nach ยง 75 SGB XII existiert.
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Folgen fรผr Intensivpflege Betroffene
Die Entscheidung bestรคtigt, was viele Familien bereits erleben: Selbst bei hรถchster Pflegestufe und eindeutigem 24-Stunden-Bedarf bleibt ein erheblicher Eigenanteil. Wer einen privaten Pflegevertrag unterschreibt, ohne dass der Sozialhilfetrรคger einen entsprechenden Preis verhandelt hat, trรคgt das finanzielle Risiko.
Pflegedienste kalkulieren wiederum mit Fachkraftgehรคltern, die deutlich รผber den Kassensรคtzen liegen. Werden Sie auf den niedrigeren Behandlungspflegetarif gedeckelt, entsteht automatisch eine Finanzierungslรผcke. Immer hรคufiger verlangen Anbieter deshalb private Aufzahlungen oder lehnen Einsรคtze ganz ab.
Praktische Handlungsempfehlungen โ ohne Listen und Tabellen
Betroffene sollten zunรคchst ihre alten Pflegegutachten heraussuchen. Ist vor 2017 eine Minutenermittlung erfolgt, gilt dieser Wert weiterhin; fehlt ein altes Gutachten, greift starr die 104-Minuten-Pauschale. Gleichzeitig lohnt ein Blick in den Vertrag zwischen Pflegedienst und Krankenkasse: Der dort festgelegte Stundensatz markiert meist die Obergrenze dessen, was das Sozialamt spรคter akzeptiert.
Beim Antrag auf Hilfe zur Pflege ist es auรerdem sinnvoll zu dokumentieren, dass andere Anbieter angefragt wurden und entweder kein Angebot abgegeben haben oder preislich kaum abweichen. So lรคsst sich der hรคufige Vorwurf entkrรคften, man habe nicht ausreichend nach gรผnstigeren Alternativen gesucht.
Angehรถrige sollten ihre tatsรคchlichen Kapazitรคten nachvollziehbar darlegen, denn Behรถrden verweisen gerne auf vermeintliche Familienhilfe โ selbst wenn der medizinische Aufwand objektiv eine Fachkraft erfordert.
Die politische Dimension der Minutenlogik
Die Kostenabgrenzungsrichtlinien beruhen in Teilen auf Daten, die lรคngst veraltet sind. Pflegeverbรคnde kritisieren, dass Personalkosten, Hygieneanforderungen und technische Entwicklungen in der Intensivpflege seit Jahren steigen, wรคhrend die pauschale Minutenwelt von 2010 fortgeschrieben wird.
Das Urteil zeigt, dass ohne politische Neuregelung die Last auf pflegebedรผrftige Familien abgewรคlzt wird. Wer sich den Eigenanteil nicht leisten kann, rutscht in den Schwarzmarkt oder muss in ein Heim wechseln โ ironischerweise oft teurer fรผr die รถffentliche Hand.
Revision vor dem Bundessozialgericht: Hoffnung oder Illusion?
Der Senat hat wegen grundsรคtzlicher Bedeutung die Revision zugelassen. Unter Az. B 8 SO 6/25 R bekommt das Bundessozialgericht erneut Gelegenheit, die 104-Minuten-Logik auf den Prรผfstand zu stellen.
Sollte das hรถchste Sozialgericht Pauschalen kippen oder flexibler auslegen, kรถnnten kรผnftige Entscheidungen wieder stรคrker an realen Pflegeablรคufen orientiert sein. Bis dahin bleibt Betroffenen nur, Widerspruchsfristen einzuhalten, Bescheide sorgfรคltig zu prรผfen und notfalls zu klagen.