Behinderte Menschen, die bisher in einer stationären Einrichtung gelebt haben und nun in eine private Mietwohnung umziehen wollen, haben Anspruch auf Leistungen zur sozialen Teilhabe einschließlich häuslicher Pflege. Dies hat das Sozialgericht München (Az.: S 48 SO 131/23 ER) in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entschieden.
Behinderte Frau klagte auf häusliche Pflege und Betreuung in der eigenen Mietwohnung
Im konkreten Fall ging es um eine 1997 geborene Frau mit Cerebralparese, die seit Anfang 2017 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhält. Sie lebte bisher in verschiedenen stationären Einrichtungen und möchte nun in eine eigene Wohnung ziehen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die Kosten für die häusliche Pflege und Betreuung in der Mietwohnung sollte der Sozialhilfeträger übernehmen.
Der Antragsgegner, also der Sozialhilfeträger, lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass die Kosten für die ambulante Betreuung in der Wohnung erheblich höher seien als die bisherigen Kosten für die stationäre Betreuung. Außerdem sei sowohl die ambulante als auch die Fortsetzung der stationären Pflege geeignet, den Bedarf der Antragstellerin zu decken.
Das Gericht entschied jedoch zu Gunsten der Klägerin. Es stellte fest, dass der Wunsch eines behinderten Menschen, außerhalb einer besonderen Wohnform zu leben, grundsätzlich zumutbar sei.
In solchen Fällen könne der behinderte Mensch nicht auf die Inanspruchnahme stationärer Leistungen verwiesen werden, da diese nicht als vergleichbare Leistung angesehen werden könnten. Das Gericht verpflichtete den Beklagten daher, die Kosten für die ambulante Pflege und Betreuung vorläufig bis zum 31.Dezember 2023 zu übernehmen.
Menschen mit Behinderungen haben das Recht, aus einem Pflegeheim in eine Wohnung umzuziehen und vom Sozialamt die Übernahme der angemessenen Pflege- und Betreuungskosten zu verlangen
Der Sozialhilfeträger darf den Antrag auf eine eigene Wohnung nicht mit der Begründung ablehnen, die Kosten seien erheblich höher als die Kosten der bisherigen stationären Betreuung.
Die Entscheidung des Gerichts beruht auf den Regelungen des Sozialgesetzbuches IX (§ 104 Abs. 3 Satz 3) und orientiert sich an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention. Es betont das Recht behinderter Menschen auf Selbstbestimmung und die Möglichkeit, in der eigenen Wohnung zu leben, wenn dies zumutbar ist und die Teilhabeziele erreicht werden können.
Das Sozialgericht betonte auch, dass es nicht in der Position sei, darüber zu entscheiden, ob ein Sozialsystem, das behinderten Menschen ein so hohes Maß an Selbstbestimmung ohne Rücksicht auf die Kosten im Einzelfall garantiert, auch auf Dauer finanzierbar ist und ob genügend Pflegekräfte zur Verfügung stehen, um den Pflegebedarf abzudecken. Die Ausgestaltung sei allein Sache des Gesetzgebers. “Einen generellen “Kostenvorbehalt” kenne das geltende Recht nicht, so der Richter.
Leistungen der Eingliederungshilfe individuell nach dem konkreten Bedarf
Das Gericht wies auch darauf hin, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe individuell nach dem konkreten Bedarf, der persönlichen Situation und der Wohnform zu bestimmen seien. Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Ausgestaltung der Leistung beziehen, ist grundsätzlich zu entsprechen, soweit sie zumutbar sind. Die Kosten der gewünschten Leistung dürfen jedoch nicht unverhältnismäßig höher sein als die Kosten vergleichbarer Leistungen.
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