Schwerbehinderung: Urlaub trotz Krankheit – Grundsatzentscheidung des BAG

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Eine ehemalige Angestellte des Landes Schleswig-Holstein erhรคlt nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) rรผckwirkend eine Urlaubsabgeltung fรผr das Jahr 2019. Der Fall betrifft einen arbeitsrechtlichen Grundsatzstreit rund um Urlaub, Krankheit und die Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers.

Entscheidend war dabei die Frage, ob tariflicher Mehrurlaub auch dann verfรคllt, wenn der Arbeitgeber seine Informationspflichten verletzt hat. (9 AZR 488/21)

Hintergrund: Langzeiterkrankung ab Juli 2019

Die Klรคgerin war seit April 2001 beim Land beschรคftigt und ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60 anerkannt. Ihr Arbeitsverhรคltnis endete zum 31. Januar 2021. Bereits ab dem 24. Juli 2019 war sie durchgehend arbeitsunfรคhig erkrankt โ€“ eine zentrale Tatsache im Rechtsstreit.

Im Kalenderjahr 2019 hatte sie 17 Urlaubstage genommen. Laut Landesregelungen wurden weitere 18 Urlaubstage in das Folgejahr รผbertragen, darunter zehn tarifliche Mehrurlaubstage. Das Land zahlte nach Ende des Arbeitsverhรคltnisses eine Urlaubsabgeltung fรผr acht Tage gesetzlichen Urlaub โ€“ die verbleibenden zehn Tage blieben ungeklรคrt.

Tarifurlaub: Kein automatischer Verfall bei Krankheit

Nach geltender Rechtsprechung dรผrfen Urlaubsansprรผche nicht automatisch verfallen, wenn die betroffene Person krank ist โ€“ es sei denn, der Arbeitgeber hat nachweislich alle Mitwirkungspflichten erfรผllt. Das bedeutet konkret: Er muss die Beschรคftigten transparent informieren, auffordern, den Urlaub zu nehmen, und auf den mรถglichen Verfall hinweisen.

In diesem Fall war das nicht geschehen. Zwar wies das Land in einem Schreiben vom Juni 2020 auf den drohenden Verfall zum 30. September 2020 hin โ€“ jedoch war die Klรคgerin zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast einem Jahr krank. Damit konnte die Mitteilung ihren Zweck nicht mehr erfรผllen.

Gericht erkennt Versรคumnisse des Arbeitgebers

Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass ein wirksamer Verfall tariflicher Urlaubsansprรผche nur dann eintreten kann, wenn der Arbeitgeber bereits vor Beginn einer Erkrankung aktiv wird. Diese sogenannte Mitwirkungsobliegenheit umfasst mehrere konkrete Anforderungen: Der Arbeitgeber muss die Beschรคftigten ausdrรผcklich dazu auffordern, ihren Urlaub zu beantragen.

Weiterhin ist er verpflichtet, klar und unmissverstรคndlich darรผber zu informieren, bis wann der Urlaub genommen werden muss und unter welchen Bedingungen ein Verfall droht. Entscheidend ist dabei auch der zeitliche Rahmen โ€“ die Hinweise mรผssen rechtzeitig erfolgen, idealerweise im ersten Quartal des betreffenden Urlaubsjahres. Im Fall der Klรคgerin hatte das Land diese Pflichten jedoch nicht erfรผllt.

Die entsprechenden Mitteilungen erfolgten erst, nachdem sie bereits erkrankt war, und eine rechtzeitige Urlaubsaufforderung blieb vollstรคndig aus. Aus diesem Grund konnte der tarifliche Mehrurlaub aus dem Jahr 2019 nicht zum 30. September 2020 verfallen.

Was bedeutet das fรผr Arbeitnehmende?

Das Urteil stรคrkt die Rechte von Beschรคftigten, im Besonderen von Personen, die รผber lรคngere Zeit krankheitsbedingt arbeitsunfรคhig sind. Es bestรคtigt, dass Urlaubsansprรผche nicht einfach verfallen dรผrfen, wenn Arbeitnehmende aufgrund gesundheitlicher Einschrรคnkungen keine reale Mรถglichkeit hatten, den Urlaub zu nehmen.

Grundsรคtzlich verfรคllt Urlaub nicht automatisch. Auch tarifliche Regelungen mรผssen sich an den rechtlich geforderten Mitwirkungspflichten messen lassen. Arbeitgeber sind daher verpflichtet, ihre Mitarbeitenden aktiv รผber bestehende Urlaubsansprรผche zu informieren, sie zur Inanspruchnahme aufzufordern und auf mรถgliche Verfallsfristen hinzuweisen โ€“ dies gilt ausdrรผcklich auch fรผr Zusatzurlaub, etwa im Fall einer Schwerbehinderung.

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Struktur der Urlaubsansprรผche: Drei Komponenten

Die Gesamtanzahl der Urlaubstage der Klรคgerin fรผr 2019 setzte sich aus drei Quellen zusammen:

  • Gesetzlicher Mindesturlaub: 20 Tage nach dem Bundesurlaubsgesetz
  • Tariflicher Mehrurlaub: 10 Tage gemรครŸ TVL
  • Zusatzurlaub fรผr Schwerbehinderte: 5 Tage nach SGB IX

Nur der gesetzliche Mindesturlaub und der Zusatzurlaub wurden durch die gewรคhrten und ausgezahlten Tage vollstรคndig abgedeckt. Der tarifliche Mehrurlaub blieb offen.

Urteil im Detail: Anspruch auf 1.509,80 Euro brutto

Das BAG sprach der Klรคgerin eine zusรคtzliche Urlaubsabgeltung in Hรถhe von 1.509,80 Euro brutto zu. Die Zahlung ist mit fรผnf Prozentpunkten รผber dem Basiszinssatz ab dem 4. Februar 2021 zu verzinsen โ€“ dem Tag nach Zustellung der Klage an das Land.

Bedeutung fรผr รถffentliche Arbeitgeber

Der Fall zeigt, dass รถffentliche Arbeitgeber wie das Land Schleswig-Holstein nicht automatisch auf ihre internen Verordnungen vertrauen kรถnnen. Auch รผbertarifliche Regelungen wie die des schleswig-holsteinischen Finanzministeriums gelten nicht pauschal, wenn sie den EU-rechtlichen Schutz von Urlaubsansprรผchen unterlaufen.

Was sollten Sie als Beschรคftigte beachten?

Zu Beginn des Jahres sollten Sie Ihren aktuellen Urlaubsstand schriftlich vom Arbeitgeber bestรคtigen lassen. Bestehen Sie auรŸerdem auf einer klaren Frist, bis wann der Urlaub genommen werden muss, um einen mรถglichen Verfall zu vermeiden.

Dokumentieren Sie sorgfรคltig alle Krankheitstage sowie etwaige Mitteilungen oder Hinweise Ihres Arbeitgebers zum Thema Urlaub. Bei Unsicherheiten empfiehlt es sich, frรผhzeitig den Betriebsrat oder eine arbeitsrechtliche Beratung einzuschalten.