Erwerbsminderung: Sozialgericht kippt Home-Office-Argument der Rentenversicherung

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Ein aktuelles Urteil des Sozialgerichts Darmstadt sorgt fรผr Aufsehen: Die Mรถglichkeit einer Tรคtigkeit im Home-Office darf nicht pauschal gegen den Anspruch auf Erwerbsminderungsrente aufgerechnet werden. In dem zugrundeliegenden Verfahren (Az. S 25 R 367/22) stellte das Gericht klar, dass Home-Office-Tรคtigkeiten keine Tรคtigkeiten unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes darstellen.

Erwerbsminderung durch fehlende Wegefรคhigkeit โ€“ worum es im Urteil ging

Im Mittelpunkt des Verfahrens stand eine langjรคhrig berufstรคtige Frau, die sich aufgrund einer Vielzahl von Erkrankungen nicht mehr in der Lage sah, einer Erwerbstรคtigkeit nachzugehen. Neben schweren orthopรคdischen Einschrรคnkungen, darunter Knorpelschรคden in beiden Knien und chronische Schmerzen, litt die Frau unter erheblichen psychischen Belastungen wie einer chronifizierten Depression, ADHS im Erwachsenenalter und einem psychovegetativen Erschรถpfungssyndrom.

Sie war seit mehreren Jahren durchgรคngig arbeitsunfรคhig und hatte eine Erwerbsminderungsrente beantragt. Der Rentenversicherungstrรคger lehnte den Antrag jedoch mit Verweis auf angeblich erhaltenes Leistungsvermรถgen und die grundsรคtzliche Mรถglichkeit einer Home-Office-Tรคtigkeit ab.

Gericht erkennt Mobilitรคtseinschrรคnkung als entscheidend an

Das Gericht folgte dieser Argumentation nicht. Es stellte vielmehr fest, dass die Antragstellerin nicht mehr in der Lage sei, Wege zur Arbeit in zumutbarer Zeit zurรผckzulegen. Eine Wegeunfรคhigkeit in rentenrechtlichem Sinne sei gegeben.

Nach gรคngiger Rechtsprechung setzt eine zumutbare Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes voraus, dass viermal tรคglich FuรŸwege von je 500 Metern innerhalb von 20 Minuten zurรผckgelegt und รถffentliche Verkehrsmittel genutzt werden kรถnnen. Diese Voraussetzungen waren bei der Klรคgerin objektiv nicht mehr erfรผllt.

Ihre Mobilitรคt war so stark eingeschrรคnkt, dass sie weder diese Wegstrecken bewรคltigen noch ein Fahrzeug im รถffentlichen StraรŸenverkehr sicher fรผhren konnte. Selbst mit Hilfsmitteln oder angepassten Fahrzeugen sei eine ausreichende Kompensation nicht mรถglich, so das Gericht.

Home-Office zรคhlt nicht zum allgemeinen Arbeitsmarkt

Besonders relevant an diesem Urteil ist die klare Abgrenzung zwischen tรคtigkeitsspezifischen Arbeitsmรถglichkeiten und den “รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes”. Wรคhrend die Rentenversicherung argumentierte, die Frau kรถnne zumindest theoretisch im Home-Office arbeiten, wies das Gericht darauf hin, dass Home-Office-Arbeitsplรคtze nicht dem allgemeinen Arbeitsmarkt gleichzusetzen seien.

Dies gelte insbesondere deshalb, weil eine solche Arbeitsform weder flรคchendeckend verfรผgbar noch in allen Berufsfeldern รผberhaupt umsetzbar sei. Der erlernte und frรผher ausgeรผbte Beruf der Klรคgerin, nรคmlich Erzieherin, sei dafรผr ein treffendes Beispiel. Dieser Beruf lรคsst sich naturgemรครŸ nicht aus dem Home-Office heraus ausรผben.

Keine fiktiven Arbeitsplรคtze โ€“ Erwerbsfรคhigkeit muss realistisch beurteilt werden

Zugleich machte das Gericht deutlich, dass selbst im Fall theoretisch denkbarer Home-Office-Tรคtigkeiten eine solche Mรถglichkeit nicht automatisch gegen eine festgestellte Wegeunfรคhigkeit ins Feld gefรผhrt werden darf.

Eine Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Versicherte auf absehbare Zeit nicht in der Lage ist, unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden tรคglich zu arbeiten. Dabei mรผsse nicht nur das gesundheitliche Leistungsvermรถgen, sondern auch die Mobilitรคt berรผcksichtigt werden.

Ohne Wegefรคhigkeit sei die Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt faktisch ausgeschlossen. Eine theoretische Home-Office-Fรคhigkeit ersetze diese nicht, zumal viele Arbeitgeber auf Prรคsenzzeiten bestehen oder technische Voraussetzungen gegeben sein mรผssten, die nicht jeder Haushalt erfรผllt.

Psychische Erkrankungen als zusรคtzlicher Belastungsfaktor

Zudem bezog das Gericht in seine Entscheidung ein, dass psychische Erkrankungen die Erwerbsfรคhigkeit weiter einschrรคnken kรถnnen. Bei der Klรคgerin lagen nach umfassender Begutachtung durch mehrere Sachverstรคndige erhebliche psychische Beeintrรคchtigungen vor, die zu einer dauerhaft reduzierten Belastbarkeit fรผhrten.

Konzentrationsschwรคchen, Erschรถpfbarkeit und depressive Verstimmungen schlossen eine tรคgliche Erwerbstรคtigkeit unter regulรคren Bedingungen faktisch aus. Entscheidend war dabei nicht nur das Vorliegen der Diagnosen, sondern auch deren Auswirkungen auf den tรคglichen Lebensvollzug und die Erwerbsfรคhigkeit.

Das Zusammenspiel aus kรถrperlichen und psychischen Leiden sei fรผr die Leistungsbeurteilung untrennbar miteinander verbunden, so die Kammer.

Neue Hoffnung fรผr viele Antragsteller auf Erwerbsminderungsrente

Fรผr viele Betroffene bedeutet dieses Urteil einen Hoffnungsschimmer. Es rรคumt mit der zunehmend verbreiteten Praxis auf, Erwerbsminderungsantrรคge mit Verweis auf Home-Office-Mรถglichkeiten abzulehnen. Gerade Menschen mit Mobilitรคtsproblemen oder schweren chronischen Erkrankungen profitieren davon, dass die Wegeunfรคhigkeit nun deutlicher als bisher als eigenstรคndiger Grund fรผr eine volle Erwerbsminderung anerkannt wird.

Zwar ist das Urteil noch nicht rechtskrรคftig und kรถnnte theoretisch in eine hรถhere Instanz gehen, doch die Argumentationslinie ist klar und juristisch gut begrรผndet.

Ein Meilenstein fรผr die Bewertung der Erwerbsfรคhigkeit

Auch fรผr kรผnftige Verfahren setzt das Urteil ein Zeichen: Wer nachweislich nicht mehr in der Lage ist, die typischen Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu erfรผllen, muss nicht auf hypothetische Arbeitsmodelle verwiesen werden, die mit der Lebenswirklichkeit der meisten Versicherten wenig zu tun haben.

Eine Erwerbsminderungsrente darf nicht an idealisierten Mรถglichkeiten scheitern, sondern muss sich an den konkreten Lebensrealitรคten orientieren.

Im Ergebnis verpflichtete das Gericht die Rentenversicherung zur Zahlung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Befristung erfolgte, weil nicht abschlieรŸend geklรคrt werden konnte, ob sich der Gesundheitszustand der Klรคgerin durch kรผnftige medizinische Eingriffe oder Therapien verbessern kรถnnte.

Dennoch ist die Entscheidung ein Meilenstein fรผr viele chronisch Erkrankte, die sich bislang mit pauschalen Ablehnungen ihrer Rentenantrรคge konfrontiert sahen.

Das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt ist ein deutliches Signal an Rentenversicherungstrรคger und Sachbearbeiter: Erwerbsminderung ist mehr als nur eine abstrakte Leistungsfรคhigkeit. Sie umfasst Mobilitรคt, psychische Stabilitรคt und die reale Mรถglichkeit, unter den Bedingungen des echten Arbeitsmarkts tรคtig zu sein. Und genau daran mรผssen sich kรผnftig auch Bescheide messen lassen.