Seit der Einführung neuer Nutzungsbedingungen bei jobcenter.digital am 18. November 2024 erleben viele Bürgergeld-Empfängerinnen und Empfänger erhebliche Schwierigkeiten im Kontakt mit dem Jobcenter.
Besonders problematisch: Die Möglichkeit, Unterlagen online hochzuladen, scheint an die Zustimmung zur ausschließlichen Online-Kommunikation geknüpft zu sein – mit weitreichenden Folgen für Menschen in prekären Lebenslagen. Eine klare Kommunikation der Behörden fehlt bislang.
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Neue Nutzungsbedingungen: „Digital – ganz oder gar nicht“
Mit der Überarbeitung der Plattform jobcenter.digital wurde eine grundlegende Änderung eingeführt: Wer den digitalen Postfachservice nutzen will, muss pauschal der Online-Kommunikation zustimmen. Diese Zustimmung gilt nicht nur für das Hochladen von Dokumenten, sondern zwingt Nutzerinnen und Nutzer auch dazu, sämtliche Bescheide und Mitteilungen künftig ausschließlich digital zu empfangen – begleitet von einer E-Mail-Benachrichtigung.
Die frühere Option, Unterlagen hochzuladen und dennoch postalisch informiert zu werden, entfällt. Nach Angaben vieler Jobcenter wurde die E-Mail-Kommunikation weitgehend eingestellt. Die Devise lautet: Online oder gar nicht. Für technisch affine Menschen mag das praktikabel sein. Für viele andere jedoch nicht.
Wer offline bleibt, bleibt außen vor
Für Menschen mit eingeschränkten digitalen Kompetenzen – etwa Ältere, Geringqualifizierte oder Personen mit Sprachbarrieren – bedeutet der neue Digitalzwang einen potenziellen Ausschluss vom Sozialleistungsbezug. Zwar können Beratungsstellen unterstützen, doch nicht jede Person hat Zugang zu solchen Hilfen.
Ein häufiges Szenario: Betroffene laden zwar Dokumente hoch, wissen aber nicht, dass sie auch regelmäßig ihr digitales Postfach kontrollieren müssen. Die Konsequenz? Verwaltungsentscheidungen gehen unter – mit möglichen Leistungskürzungen oder gar Sanktionen. Die rechtssichere Zustellung verlagert sich damit vom Amt zur Selbstverantwortung der Leistungsberechtigten – ein Paradigmenwechsel mit Risiken.
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Widersprüchliche Aussagen: Bundesregierung und BA uneins
Besonders irritierend: Während die Bundesregierung betont, dass der Upload von Unterlagen nicht an die Zustimmung zur Online-Kommunikation gebunden sei, widerspricht die Bundesagentur für Arbeit (BA) dieser Darstellung. In einer Antwort der BA heißt es ausdrücklich, dass ein Hochladen nur möglich ist, wenn die Online-Kommunikation aktiviert wurde. Ansonsten erfolgt der gesamte Austausch per Post.
Selbstversuch bestätigt Befürchtungen
Ein Selbstversuch durch den Juristen Bernd Eckhardt am 27. März 2025 bestätigt Letzteres: Ohne Zustimmung zur digitalen Zustellung war kein Upload möglich. Der Versuch scheiterte zudem an unklaren technischen Abläufen – etwa unvollständigen Anträgen, die nicht gespeichert werden konnten. Auch Unterstützungsangebote wie Hilfetexte blieben vage und wenig nutzerfreundlich.
Intransparente App-Führung: Upload durch Umwege?
Ein weiterer Aspekt sorgt für Verwirrung: Laut einem internen Hinweis der Bundesagentur lässt sich die Upload-Funktion in der App unter bestimmten Bedingungen auch ohne Zustimmung zur digitalen Zustellung nutzen.
Nutzerinnen müssten dabei gezielt die untere Kachel „Dateien hochladen“ wählen – ein Detail, das vielen nicht bekannt ist. Wird stattdessen auf „Nachrichten“ oder „Anträge“ geklickt, erscheint automatisch die Abfrage zur Einwilligung.
Diese versteckte Funktionalität konterkariert das Prinzip digitaler Barrierefreiheit. Transparenz und klare Nutzerführung – speziell für eine Zielgruppe mit erhöhtem Unterstützungsbedarf – fehlen an dieser wichtigen Stelle.
Systemische Schwächen: Digitalisierung ohne Perspektive der Betroffenen
Der grundlegende Fehler liegt laut Fachleuten im System selbst: Die BA habe Leistungsberechtigte nicht ausreichend als gleichwertige Stakeholder in den Entwicklungsprozess der Software einbezogen. Zwar wurden bei der Konzeption Workshops mit verschiedenen Gruppen durchgeführt, im Ergebnis orientiert sich die App jedoch primär an den Bedürfnissen der Sachbearbeitung – nicht an jenen der Antragstellerinnen.
Der Fokus liegt auf Effizienz: Die Integration der App in bestehende Fachverfahren (wie ALLEGRO oder die E-Akte) stand im Vordergrund. Dass dies auf Kosten der Zugänglichkeit gehen könnte, wurde offenbar nicht ausreichend reflektiert.
Digitalisierung darf nicht gleich Ausschluss bedeuten
Der Fall jobcenter.digital zeigt, dass Digitalisierung nicht automatisch Fortschritt bedeutet – insbesondere nicht für benachteiligte Gruppen. Der Grundsatz der „Zugänglichkeit des Sozialstaats“ (vgl. Constanze Janda, DIFISStudie 2024/9) wird unterlaufen, wenn technische Hürden zum faktischen Ausschluss vom Leistungsbezug führen.
Das betrifft besonders Personen, die aus gesundheitlichen, sprachlichen oder bildungsbezogenen Gründen auf einfache analoge Wege angewiesen sind.
Auf der Website des Jobcenters Saalfeld-Rudolstadt wird aktuell angekündigt, dass ab Dezember 2024 Weiterbewilligungsanträge nur noch digital möglich seien. Das schließt viele Menschen faktisch aus – ein Verstoß gegen das sozialrechtliche Teilhabeprinzip.
Forderungen aus der Praxis: Wahlfreiheit statt Zwang
Beratungsstellen fordern daher: Die Möglichkeit zum digitalen Upload sollte nicht zwangsläufig mit der ausschließlichen Online-Kommunikation gekoppelt sein. Ein hybrides Modell wäre praktikabler: Upload online, Zustellung wahlweise digital oder postalisch.
Auch klar verständliche Hinweise innerhalb der App sind notwendig – beispielsweise durch deutlich sichtbare Erklärungen bei der Einwilligungsabfrage oder als Tooltip beim Hochladen.
Die App sollte stärker aus der Lebenswelt ihrer Nutzerinnen gedacht werden. Viele der Betroffenen leben unter Bedingungen, in denen technische Infrastrukturen (z. B. stabile Internetverbindungen, Endgeräte, Datenschutzkenntnisse) nicht selbstverständlich sind.
Hoffnung auf Weiterentwicklung
Der Projektleiter der App, Kai Beerbohm, hat angekündigt, dass jobcenter.digital weiterentwickelt wird. Die aktuelle Version 1.0 sei nur der Anfang, das Feedback werde in zukünftige Versionen einfließen. Entscheidend wird sein, ob dabei wirklich die Perspektive der betroffenen Bürgerinnen und Bürger einbezogen wird – oder ob erneut nur für die Abläufe im Jobcenter, aber nicht für Bürgergeld-Empfänger entwickelt wird.