Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat am 16. Januar 2025 (Az. L 6 SB 291/21) die Hoffnung eines erwerbsgeminderten Bürgergeldempfängers auf einen Gesamtgrad der Behinderung (GdB) von 80 und das Merkzeichen G kassiert.
Das Gericht bestätigte lediglich eine Erhöhung auf GdB 70 ab 9. Februar 2021. Für Leser\innen von gegenhartz.de zeigt das Urteil, wie streng Nachweise und Mitwirkungspflichten im Schwerbehindertenrecht gehandhabt werden.
Inhaltsverzeichnis
Die Akte auf einen Blick
Der Kläger war seit Jahren mit widersprüchlichen Arztberichten unterwegs. Mehrere Gutachtentermine ließ er platzen oder lehnte sie wegen gesundheitlicher Probleme ab. Das Sozialgericht Gelsenkirchen wies die Klage 2021 ab; vor dem LSG lenkte der Beklagte zwar ein und erkannte GdB 70, blieb aber bei der Ablehnung des Merkzeichens G.
Die Richter ließen den höheren Antrag deshalb scheitern und versagten dem Kläger auch die Erstattung seiner Gerichtskosten.
Warum das Gericht bremste
Das LSG sah die Schwelle für „wesentliche Änderung“ nicht überschritten. Entscheidend:
- Unklare Befunde. Audiogramme und Gesichtsfeldtests widersprachen sich; Sachverständige vermuteten Simulation.
- Verpasste Untersuchungen. Der Kläger nahm Gutachtertermine nicht wahr und konnte keine Heimbegutachtung belegen.
- Fehlende objektive Beweise für eine erhebliche Gehbehinderung, die das Merkzeichen G rechtfertigen würde.
Allein der pauschale Verweis auf Schmerzen, Angststörung oder Glaukom reichte nicht. Die Richter betonten, dass medizinische Werte nachvollziehbar und konsistent sein müssen.
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Merkzeichen G: Warum es so wertvoll ist
Ohne Merkzeichen G entfällt der 17-prozentige Mehrbedarf für Mobilität im Bürgergeld (§ 21 Abs. 4 SGB II). Bei einem Regelsatz von 563 € macht das aktuell rund 96 € monatlich aus. Auch die unentgeltliche ÖPNV-Freifahrt entfällt. Für Betroffene kann das Urteil somit direkt spürbare Löcher in den Geldbeutel reißen.
Typische Stolperfallen – und wie Sie sie vermeiden
Mitwirkungspflicht beachten. Wer Gesundheitsprüfungen schwänzt, riskiert Ablehnung. Sorgen Sie für Taxi-Kostenzusagen oder Heimbegutachtung, falls nötig.
Befundlage vereinheitlichen. Stimmen Sie Hör- und Sehtests zwischen Fach und Hausärzten ab. Inkonsistenzen wecken Misstrauen und können als „Aggravation“ (Übertreibung) gewertet werden.
Gut vorbereitet argumentieren. Schildern Sie klar, wie sich jede Erkrankung konkret auf Alltag und Mobilität auswirkt. Reine Diagnosen genügen nicht.
Kostenvoranschläge sammeln. Ob Rollator, Orthesen oder Therapietaxi: Belegen Sie die finanziellen Belastungen durch Belege.
Praxisbeispiel: So wirkt sich ein fehlendes Merkzeichen aus
Eine 55-jährige Bürgergeldbezieherin mit GdB 60 und Merkzeichen G erhält monatlich 96 € Mehrbedarf und das NRW weit gültige Schwerbehinderten-Ticket. Ohne das Merkzeichen müsste sie diese Summe aus dem Regelbedarf bestreiten und zusätzlich Monatskarten kaufen. Das LSG-Urteil zeigt, dass selbst GdB 70 nicht automatisch zur Mobilitätshilfe führt.
Behördenlogik bei der GdB-Ermittlung
- Einzel-Grade (E-GdB) für jedes Funktionssystem, etwa Psyche oder Wirbelsäule.
- Höchster Einzelwert bestimmt die Richtung.
- Weitere Leiden erhöhen nur, wenn sie eigenständige Auswirkungen haben.
Im Fall vor dem LSG erreichte die psychische Erkrankung E-GdB 40, das Rückenleiden 20, Hör- und Sehschwächen je 20. Daraus folgte höchstens GdB 60. Erst das Einlenken des Beklagten brachte GdB 70 – eine Konzession ohne neue Beweislage.
Finanzielles Risiko eines Prozesses
Das LSG verhängte keine Kostenerstattung, weil der Kläger letztlich kaum besser stand als vor Prozessbeginn. Wer ohne stichhaltige Nachweise klagt, muss also mit Gerichts- und Anwaltskosten rechnen.
Tipps für künftige Anträge
Beantragen Sie vor jedem Prozess eine unabhängige zweite Meinung.
Bündeln Sie alle Fachberichte in chronologischer Reihenfolge.
Beantragen Sie bei Reiserestriktionen rechtzeitig eine Heimbegutachtung.
Dokumentieren Sie jeden Arztbesuch und jede Verordnung.