Die Karenzzeit schützt Bürgergeld-Beziehende im ersten Jahr vor Kürzungen der kalten Miete. Die Regierung will diese Schutzfrist bei „unverhältnismäßig hohen“ Wohnkosten streichen. Das klingt nach Treffsicherheit – birgt aber für viele Betroffene erhebliche Risiken: mehr Rechtsunsicherheit, schnellerer Druck zum Umzug und neue Konflikte mit den Jobcentern.
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Was heute gilt: Ein Jahr Schutz, danach Kostensenkung
Seit Januar 2023 gilt: Im ersten Bezugsjahr übernimmt das Jobcenter die tatsächlichen Unterkunftskosten, begrenzt auf die kalten Mieten. Heizkosten gelten von Beginn an nur in angemessener Höhe. Nach der Karenzzeit prüft das Jobcenter die Angemessenheit.
Liegt die Miete darüber, läuft in der Regel eine sechsmonatige Frist zur Senkung. Danach werden höchstens die örtlich angemessenen Kosten berücksichtigt. Das bleibt der rechtliche Rahmen.
Der Plan der Regierung: Keine Karenz bei „Extremmieten“
Union und SPD haben eine Neuordnung der Grundsicherung angekündigt. Der Koalitionsvertrag sieht vor: Wo „unverhältnismäßig hohe“ Kosten der Unterkunft vorliegen, entfällt die Karenzzeit. Damit soll die öffentliche Hand überzogene Mieten schneller begrenzen.
Der Haken: Der Begriff „unverhältnismäßig“ ist politisch gesetzt, aber nicht gesetzlich definiert. Ohne klare Kriterien drohen Auslegungsstreit und Flickenteppich.
Kritikpunkt 1: Rechtsunsicherheit statt Treffsicherheit
Klar geregelte Grenzen schaffen Ruhe. Unklare Tatbestände schaffen Streit. „Unverhältnismäßig“ lädt zu weiten Auslegungen ein. Jobcenter könnten schon bei moderat überhöhten Mieten die Karenz verweigern. Betroffene müssten sofort gegensteuern, obwohl der Markt kaum bezahlbaren Wohnraum bietet.
Das erhöht die Zahl der Widersprüche und Verfahren – auf Kosten der Menschen im Leistungsbezug. Die Verwaltung wird ebenfalls belastet.
Kritikpunkt 2: Härtefälle geraten schneller unter Druck
Die Karenzzeit schützt vor sofortigen Kürzungen bei Mietbeginn. Sie verhindert übereilte Umzüge in Krisensituationen. Wer pflegebedürftig ist, Kinder mit Schulwegen hat oder eine barrierefreie Wohnung braucht, benötigt Zeit.
Fällt die Karenz bei angeblichen „Extremmieten“ weg, trifft der Druck genau diese Gruppen zuerst. Härtefallklauseln helfen nur, wenn sie anwendbar sind und nicht an starren Nachweisen scheitern.
Kritikpunkt 3: Fehlanreize werden überschätzt
Die Politik begründet die Ausnahme mit Sparzielen und angeblichen Arbeitsanreizen. Die Datenlage ist dünn. Jobcenter-Beschäftigte berichten laut IAB von maximal gemischten Effekten der Karenzzeit auf Qualifizierung und Jobsuche.
Ein messbarer Beschäftigungsschub blieb aus. Wer den Schutz jetzt beschneidet, löst das Grundproblem nicht: Es fehlt bezahlbarer Wohnraum. Eine Streichung erzeugt keinen einzigen Umzugstermin mehr.
Gesetzlicher Rahmen: Diese Regeln sind grundlegend
§ 22 SGB II unterscheidet angemessene und tatsächliche Kosten. Die Karenzzeit gilt ein Jahr für die Unterkunft. Heizkosten werden stets nur angemessen anerkannt. Endet die Karenz, folgt regelmäßig eine sechsmonatige Kostensenkungsphase. Erst danach wird die Angemessenheit gedeckelt. Das ist wichtig für Ihre Planung.
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Bescheid prüfenPraxisnah: So vermeiden Sie Kürzungen jetzt
Holen Sie vor einem Umzug immer eine Zusicherung des Jobcenters ein. Ohne Zusicherung bleiben zu hohe Kosten oft unberücksichtigt. Dokumentieren Sie Ihre Wohnungssuche lückenlos. Sammeln Sie Nachweise zu besonderen Bedürfnissen: Gesundheit, Pflege, Barrierefreiheit, Schulwege.
Reagieren Sie auf Kostensenkungsaufforderungen sofort und schriftlich. Prüfen Sie Heizkosten besonders genau. Hier gelten Angemessenheitsgrenzen von Beginn an.
Wo die Reform ansetzen müsste – und wo nicht
Wer sparen will, benötigt klare, überprüfbare Kriterien. Eine offene Generalklausel birgt das Gegenteil. Sinnvoll wäre eine präzise Definition mit transparenter Schwelle: etwa ein prozentualer Abstand zur örtlichen Mietobergrenze, plus verbindliche Härtekriterien.
Parallel braucht es schnelle und öffentliche Mietspiegel-Updates, damit „Angemessenheit“ die Marktrealität abbildet. Was nicht hilft: Druck ohne Angebot. Ohne mehr günstige Wohnungen und zügige Zusagen der Kommunen wird aus der Ausnahme ein Beschleuniger für Zwangsumzüge.
Was Betroffene jetzt konkret tun sollten
Behalten Sie Ihren Bescheid und alle Fristen im Blick. Prüfen Sie, ob Ihre Miete die lokalen Obergrenzen überschreitet. Erkundigen Sie sich nach kommunalen Umzugs- und Kautionshilfen. Legen Sie Widerspruch ein, wenn die Karenzzeit ohne Begründung verneint wird.
Fordern Sie eine Einzelfallprüfung ein. Bei gesundheitlichen Einschränkungen lassen Sie Atteste ausstellen. Suchen Sie Beratung bei Sozialverbänden oder Schuldnerberatungen. Dort erhalten Sie Unterstützung für Anträge und Verfahren.
Risikoanalyse: Wer besonders gefährdet ist
Singles in Großstädten haben häufig Mieten knapp über der Grenze. Alleinerziehende benötigen oft größere Wohnungen, die selten „angemessen“ sind. Menschen mit Behinderung benötigen Barrierefreiheit, die teurer ist. Ältere und Kranke können Umzüge praktisch nicht stemmen.
Für diese Gruppen ist die Karenzzeit mehr als Bürokratie. Sie ist Schadensbegrenzung in einem überhitzten Markt.
Finanzielle Wirkung: Sparen ja – aber wo?
Die Ausnahme mag einzelne Haushalte schneller deckeln. Die öffentliche Hand spart jedoch nur dann, wenn tatsächlich umgezogen wird oder Mietsenkungen gelingen. Beides scheitert häufig am Markt. Verfahren, Gutachten und Umzugskosten fressen Ersparnisse auf.
Besser sind präventive Instrumente: Pauschalen mit realitätsnaher Höhe, Zuschüsse für energetische Effizienz, und unbürokratische Wechsel auf günstigere Verträge bei Wärme.
Ausblick: Entscheidung mit Signalwirkung
Der Koalitionsvertrag setzt die Linie. Ein Gesetzentwurf muss die unklaren Begriffe füllen. Entscheidend wird sein, wann eine Miete „unverhältnismäßig“ ist und wer das wie prüft. Kommen harte, transparente Grenzen, lässt sich streiten – aber zumindest prüfen. Bleibt es vage, droht Willkür. Dann zahlt am Ende, wer am wenigsten abfedern kann: Menschen im Leistungsbezug.