Schwerbehinderung: Kein Merkzeichen H trotz GdB 80

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Ein Grad der Behinderung von 80 klingt nach einer eindeutigen Ausgangslage. Dennoch scheitert das Merkzeichen H (โ€žHilflosigkeitโ€œ) in der Praxis hรคufig โ€“ selbst bei schweren funktionalen Einschrรคnkungen.

Ein aktuelles Beispiel liefert das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 06.02.2025, L 11 SB 117/22): GdB 80 ja, Merkzeichen H nein. Der Fall zeigt, worauf es rechtlich wirklich ankommt โ€“ und wo typische Argumentationsfehler liegen.

GdB ist nicht gleich โ€žHilflosigkeitโ€œ

Der GdB bewertet die Schwere der Gesundheitsstรถrungen in ihrer Gesamtheit. Das Merkzeichen H setzt hingegen einen konkreten, alltรคglichen Hilfebedarf bei einer Reihe hรคufig wiederkehrender Verrichtungen voraus โ€“ und zwar dauernd, nicht nur gelegentlich.

Rechtlicher MaรŸstab sind ยง 33b Abs. 3 S. 4โ€“5 EStG und die Versorgungsmedizinischen Grundsรคtze (VMG). MaรŸgeblich ist, wie viel Hilfe pro Tag tatsรคchlich nรถtig ist, bei welchen Verrichtungen sie anfรคllt und wie wirtschaftlich gewichtig diese Hilfe ist. Ein hoher GdB ersetzt diesen Nachweis nicht.

Die Zwei-Stunden-Orientierung: Ohne Zeit belegen geht es nicht

Die Rechtsprechung nutzt fรผr โ€žHilflosigkeitโ€œ seit Langem eine OrientierungsgrรถรŸe: Wer nur rund eine Stunde tรคglich Hilfe benรถtigt, gilt regelmรครŸig nicht als hilflos. In vielen Entscheidungen hat sich deshalb eine Zwei-Stunden-Schwelle als Richtschnur herausgebildet. Sie ist kein starres Muss, aber ein starkes Indiz.

Entscheidend sind Zahl, zeitliche Verteilung und wirtschaftlicher Wert der Hilfen โ€“ also ob Hilfe zusammenhรคngend anfรคllt, wie aufwendig sie ist und ob spezielle Kenntnisse/Gerรคte nรถtig sind.

Im LSG-Fall stand โ€“ wie hรคufig โ€“ nicht der GdB im Zentrum, sondern die Minuten: Dokumentiert waren Grundpflegezeiten deutlich unter zwei Stunden tรคglich. Ergebnis: Kein Merkzeichen H.

Pflegegrad 3 reicht nicht โ€“ Pflegegrad 4 ist nur ein starkes Indiz

Beliebt, aber trรผgerisch ist das Argument, ein Pflegegrad belege automatisch Hilflosigkeit. Das stimmt nicht. Der Pflegebedรผrftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung ist nicht deckungsgleich mit der steuer-/versorgungsmedizinischen โ€žHilflosigkeitโ€œ.

Nach der hรถchstrichterlichen Linie lassen sich aus Pflegegrad 3 allenfalls schwere Beeintrรคchtigungen ableiten; generell nahe liegt Hilflosigkeit frรผhestens ab Pflegegrad 4 โ€“ und auch dann nicht automatisch. Das LSG hat dies nochmals ausdrรผcklich hervorgehoben.

Welche Hilfe zรคhlt โ€“ und welche nicht

Fรผr H zรคhlen hauptsรคchlich Verrichtungen der Grundpflege und eng angrenzende Bereiche: Kรถrperpflege (Duschen/Waschen, Zahnpflege, Kรคmmen, Intimpflege), Ernรคhrung (mundgerechtes Zubereiten/Aufnahme), Mobilitรคt (Aufstehen, Zubettgehen, An-/Auskleiden, Gehen/Stehen, Treppen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung).

Hauswirtschaft (Kochen, Putzen, Einkaufen) gehรถrt nicht dazu. Auch โ€žallgemeine Aufsichtโ€œ oder reine Impuls-/Anleitungsgaben ohne nennenswerten Zeitaufwand reichen nicht.

AuรŸerhรคusliche Hilfe wird nur berรผcksichtigt, wenn sie nรถtig ist, damit das Leben in der Wohnung รผberhaupt mรถglich bleibt (z. B. Arzt-, Therapie-, Apotheken-, Behรถrdenwege). Spaziergรคnge, Kultur- oder soziale Teilhabe sind wรผnschenswert, zรคhlen aber nicht in den H-Bedarf. Genau diese Abgrenzung hat das LSG erneut betont.

Bereitschaftszeiten sind heikel

โ€žJemand muss stรคndig greifbar seinโ€œ โ€“ dieser Satz รผberzeugt nur selten. Bereitschaft wird nur ausnahmsweise wie aktive Hilfe gewertet, etwa wenn hรคufig und plรถtzlich wegen akuter Lebensgefahr eingegriffen werden muss (z. B. schwere Anfallsleiden mit jederzeitigem Interventionsbedarf).

Bei geistigen/psychischen Behinderungen reicht bloรŸe รœberwachung ohne solchen Gefรคhrdungskontext in der Regel nicht.

Was das LSG Berlin-Brandenburg konkret entschieden hat

Die Klรคgerin hatte seit Jahren einen GdB von 80 (geistige Behinderung) und beantragte das Merkzeichen H. Das Gericht lehnte ab, weil die dokumentierten Grundpflegezeiten die Zwei-Stunden-Richtschnur nicht erreichten, viele Hilfen nur als Anleitung/Impuls galten und auรŸerhรคusliche Begleitungen รผberwiegend nicht berรผcksichtigungsfรคhig waren.

Pflegegrad 3 รคnderte daran nichts. Ergebnis: Kein H, GdB weiter 80.

Konsequenzen fรผr Antrรคge, Widerspruch und Klage

Wer mit GdB 80 (oder 70/90/100) das Merkzeichen H beantragt, sollte ohne Lรผcken zeigen, wo und wie lange tรคglich Hilfe erforderlich ist โ€“ mรถglichst รผber mehrere Wochen protokolliert.

Entscheidend sind konkrete Verrichtungen (z. B. Duschen inkl. Intimpflege, An-/Auskleiden mit Verschlรผssen, mundgerechte Zubereitung/รœberwachung der Nahrungsaufnahme, Toilettengรคnge, sicheres Verlassen/Rรผckkehr zur Wohnung) und zusammenhรคngende Zeitblรถcke.

Reine โ€žAufsichtโ€œ oder soziale Begleitung bringen den Antrag nicht voran. Medizinische Stellungnahmen sollten den Zeitbedarf und die Qualitรคt der Hilfe klar beziffern und nicht bei allgemeinen Formeln stehenbleiben.

Kommt es zum Widerspruch, lohnt der Blick auf Tagesstruktur, Morgen-/Abendspitzen und die Frage, ob Hilfen zwingend zusammenhรคngend erbracht werden mรผssen (hรถherer wirtschaftlicher Wert) โ€“ oder ob sie als vereinzelt verstreute Handgriffe auftreten (niedrigerer Wert). Therapie-/Arztwege sind sauber zu trennen von Freizeitbegleitung.