Wer Bürgergeld bezieht, lebt oft mit der Sorge, dass schon ein kleiner Fehler gravierende Folgen haben kann. Ein aktuelles Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 21. Mai 2025 (Az.: L 4 AS 56/24) zeigt, wie hart diese Folgen tatsächlich ausfallen können – selbst dann, wenn eine Betroffene schwer psychisch erkrankt ist.
Das Gericht stellte klar: Ohne rechtzeitigen Weiterbewilligungsantrag gibt es keine lückenlose Zahlung von Bürgergeld. Weder die Erkrankung noch die spätere Bestellung einer gesetzlichen Betreuerin verpflichten das Jobcenter dazu, von sich aus nachzuforschen oder Hausbesuche zu machen.
Inhaltsverzeichnis
Vier Monate ohne Leistungen, keine Krankenversicherung, Mietschulden
Im Mittelpunkt des Verfahrens stand eine 1978 geborene Frau, die Bürgergeldleistungen (damals bereits unter neuer Bezeichnung) nach dem SGB II bezogen hatte. Bewilligt waren Zahlungen für den Zeitraum vom 1. November 2020 bis zum 31. Oktober 2021.
Schon am 6. September 2021 informierte das Jobcenter die Frau schriftlich darüber, dass der Bewilligungszeitraum zum 31. Oktober 2021 endet und für eine Fortzahlung ein Weiterbewilligungsantrag erforderlich ist. Genau an diesem Punkt setzt die spätere Auseinandersetzung an: Ein neuer Antrag ging erst am 3. März 2022 beim Jobcenter ein.
Damit entstand eine Lücke von vier Monaten – vom 1. November 2021 bis zum 28. Februar 2022. In dieser Zeit erhielt die Frau weder Bürgergeld noch war sie gesetzlich krankenversichert.
Es sammelten sich Mietrückstände in Höhe von 2.800,50 Euro an, die Wohnung war bereits zum 1. Mai 2022 gekündigt worden. Das Jobcenter übernahm die Mietschulden später als Darlehen, eine laufende Leistungsbewilligung für den betreffenden Zeitraum blieb aber aus.
Erkrankung und Bestellung einer Betreuerin
Am 3. März 2022, dem Tag, an dem der verspätete Weiterbewilligungsantrag im Jobcenter einging, bestellte das Amtsgericht die Tochter der Frau zur ehrenamtlichen Betreuerin. Die Betreuerin trug vor, die Mutter sei bereits seit Anfang 2021 schwer psychisch erkrankt und aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage gewesen, Anträge zu stellen oder ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln.
Sie stützte sich dabei auf ärztliche Unterlagen, die erhebliche psychische Beeinträchtigungen belegen sollten.
Ab dem 7. März 2022 kam es wiederholt zu stationären Behandlungen aufgrund der Erkrankung. Die Betreuerin argumentierte, dass die Frau im gesamten streitigen Zeitraum tatsächlich nicht in der Lage gewesen sei, eigenverantwortlich einen Weiterbewilligungsantrag zu stellen.
Das Jobcenter bewilligte dennoch erst ab dem 1. März 2022 wieder Leistungen. Am 17. März 2022 beantragte die Betreuerin sodann eine rückwirkende Bewilligung ab November 2021 und verwies unter anderem darauf, das Jobcenter hätte aufgrund der bekannten Situation nachfassen müssen.
Bürgergeld gibt es nur auf Antrag
Rechtlich war der Fall an einem bekannten Grundsatz aufgehängt: Leistungen nach dem SGB II werden ausschließlich auf Antrag erbracht (§ 37 Abs. 1 SGB II). Das gilt sowohl für den ersten Antrag als auch für die Weiterbewilligung nach Ablauf eines Bewilligungsabschnitts. Eine rückwirkende Bewilligung ist grundsätzlich nur ab Beginn des Antragsmonats möglich.
Der am 3. März 2022 gestellte Antrag wirkte deshalb nach § 37 SGB II lediglich bis zum 1. März 2022 zurück, nicht aber in den davorliegenden Zeitraum. Für die Monate November 2021 bis Februar 2022 fehlte ein wirksamer, rechtzeitiger Antrag.
Im Hintergrund steht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), nach der der Antrag im SGB-II-System eine Art „Türöffnerfunktion“ hat: Er eröffnet einen befristeten Bewilligungszeitraum, in dem die Bedürftigkeit geprüft und die Leistungen festgesetzt werden. Ohne Antrag kann dieses Verfahren nicht starten, und eine rückwirkende „Reparatur“ ist nur in eng begrenzten Konstellationen möglich.
Vorwurf an das Jobcenter: Hätte die Behörde nachfassen müssen?
Die Klägerin stützte sich im Verfahren nicht nur auf den allgemeinen Hinweis auf ihre Erkrankung. Sie machte insbesondere geltend, das Jobcenter habe seine Pflichten verletzt und müsse deshalb im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als sei der Antrag rechtzeitig gestellt worden.
Nach dieser Rechtsfigur – vom BSG entwickelt und inzwischen gefestigt – kann ein Sozialleistungsträger verpflichtet sein, Nachteile auszugleichen, die durch eine fehlerhafte oder unterlassene Beratung entstanden sind. Voraussetzung ist, dass die Behörde eine ihr obliegende Pflicht verletzt und gerade dadurch der spätere Nachteil (hier: fehlende Leistungen) ausgelöst wurde.
Die Betreuerin argumentierte, das Jobcenter hätte angesichts der bekannten psychischen Erkrankung der Klägerin von sich aus nachfragen, Hausbesuche vornehmen oder zumindest versuchen müssen, die Betroffene zu erreichen. Gerade weil klar gewesen sei, dass die Frau gesundheitlich stark eingeschränkt sei, habe die Behörde strengere Maßstäbe an ihre eigenen Mitwirkungspflichten anlegen müssen.
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Bescheid prüfenEntscheidung des Sozialgerichts und Berufung zum LSG
Das Sozialgericht Hamburg wies die Klage zunächst ab. Es sah keinen Rechtsfehler des Jobcenters, der einen Herstellungsanspruch oder andere Ausnahmen vom Antragserfordernis tragen könnte.
Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung zum LSG Hamburg ein. Sie hielt daran fest, dass die Behörde angesichts der Krankheitslage ihrer Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei und sich nicht auf das bloße Auslaufen des Bewilligungszeitraums zurückziehen dürfe.
LSG Hamburg: Keine rückwirkenden Leistungen ohne rechtzeitigen Antrag
Das LSG Hamburg bestätigte nun die Entscheidung der Vorinstanz. Für den Zeitraum vom 1. November 2021 bis zum 28. Februar 2022 bestehe kein Anspruch auf Bürgergeld, weil kein rechtzeitiger Weiterbewilligungsantrag vorlag. Das Antragserfordernis sei auch durch die schwere psychische Erkrankung nicht aufgehoben.
Das Gericht betonte, dass das Jobcenter die Klägerin bereits am 6. September 2021 ausdrücklich auf das Ende des Bewilligungszeitraums zum 31. Oktober 2021 hingewiesen und über die Notwendigkeit der Weiterbewilligung informiert habe. Damit sei die gesetzliche Beratungspflicht erfüllt gewesen. Eine Pflicht, ohne neuen Antrag „ins Blaue hinein“ Ermittlungen anzustellen, gebe es nicht.
Das LSG stützte sich dabei ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das in einem Urteil vom 16. Mai 2012 (Az.: B 4 AS 166/11 R) klargestellt hatte: Auch bei längeren Ortsabwesenheiten oder bekannten Problemlagen bleibt es beim Erfordernis eines Fortzahlungsantrags; die Behörde muss nicht automatisch tätig werden, wenn ein Bewilligungszeitraum ausläuft.
Kein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch mangels Pflichtverletzung
Den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch lehnte das LSG ab. Dieser Anspruch setzt eine Pflichtverletzung des Leistungsträgers voraus – etwa eine unterlassene oder falsche Beratung –, die unmittelbar ursächlich für den Nachteil des Betroffenen geworden ist.
Eine solche Pflichtverletzung konnte das Gericht nicht erkennen. Das Jobcenter hatte rechtzeitig über das Ende des Bewilligungszeitraums und die Notwendigkeit eines Weiterbewilligungsantrags informiert. Mehr sei – so das LSG – ohne konkrete neue Anhaltspunkte nicht geschuldet gewesen.
Insbesondere musste die Behörde weder Hausbesuche durchführen noch von sich aus Nachforschungen anstellen, weil kein neuer Antrag vorlag. Der Gesetzgeber habe die Verantwortung für die Veranlassung eines neuen Bewilligungsabschnitts bewusst bei den Leistungsberechtigten belassen.
Keine Wiedereinsetzung, kein Härtefallanspruch
Auch andere rechtliche „Rettungsanker“ griffen nicht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X lehnte das Gericht mit der Begründung ab, dass es an einer gesetzlichen Frist im Sinne dieser Vorschrift fehle. Die Pflicht zur Antragstellung nach § 37 SGB II sei keine solche Frist, sondern Ausdruck des grundsätzlichen Antragsprinzips im SGB II.
Ebenso wenig kam eine Nachsichtsgewährung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben in Betracht. Das Gericht stellte klar, dass es nicht rechtsmissbräuchlich sei, wenn sich das Jobcenter auf den fehlenden Antrag berufe. Im Gegenteil entspreche dies dem Konzept des Gesetzes: Ab Antragseingang werde geprüft und bewilligt, für Zeiten davor bestehe nur in eng begrenzten Ausnahmefällen eine Nachzahlungspflicht.
Hinzu kommt: Im streitigen Zeitraum stand die Klägerin nach Auffassung des Gerichts der Arbeitsvermittlung ohnehin nicht zur Verfügung, weil sie gesundheitlich stark eingeschränkt war. Auch aus diesem Blickwinkel sei eine rückwirkende Leistungsgewährung nicht geboten.
Konsequenzen für Betroffene: Antragspflicht bleibt auch bei Krankheit bestehen
Die Entscheidung des LSG Hamburg ist für Bürgergeldbeziehende von großer praktischer Bedeutung. Sie macht deutlich, dass die Pflicht zur rechtzeitigen Antragstellung auch bei schweren Erkrankungen im Regelfall bestehen bleibt.
Wer Bürgergeld erhält, muss deshalb darauf achten, den Weiterbewilligungsantrag frühzeitig zu stellen – idealerweise, sobald das Jobcenter auf das Auslaufen des Bewilligungszeitraums hinweist. Geht der Antrag zu spät ein, kann dies zu monatelangen Zahlungslücken, Verlust der Krankenversicherung und Mietschulden führen. Eine nachträgliche Korrektur ist rechtlich nur unter engen Voraussetzungen möglich.
Krankheit oder Überforderung entschuldigen die Versäumung nicht automatisch. Die Gerichte prüfen sehr genau, ob die Behörde ihre Pflichten zur Information und Beratung erfüllt hat. Ist dies der Fall, bleibt es in aller Regel bei der Verantwortung der Leistungsberechtigten oder ihrer Vertreter.
Vorsorge durch Vollmacht oder Betreuung
Das Urteil zeigt eindrücklich, wie wichtig Vorsorge ist. Gerade bei länger andauernden psychischen oder körperlichen Erkrankungen sollten Betroffene frühzeitig überlegen, wer im Notfall Anträge stellen, Fristen im Blick behalten und mit Behörden kommunizieren kann.
Eine schriftliche Vollmacht kann nahen Angehörigen oder Vertrauenspersonen ermöglichen, im Namen der erkrankten Person tätig zu werden. Ist die Selbstständigkeit bereits erheblich eingeschränkt, kann eine rechtliche Betreuung in Betracht kommen. Entscheidend ist, dass diese Vertretungsstrukturen rechtzeitig eingerichtet werden – nicht erst dann, wenn bereits Zahlungslücken, Mietrückstände oder der Verlust des Versicherungsschutzes drohen.
Fazit: Harte Linie beim Antragserfordernis
Das LSG Hamburg folgt mit seiner Entscheidung der Linie des Bundessozialgerichts und stellt das Antragserfordernis im Bürgergeldrecht noch einmal unmissverständlich heraus. Selbst gravierende gesundheitliche Probleme entbinden nicht davon, für die eigenen Leistungsansprüche Vorsorge zu treffen oder Dritte zu bevollmächtigen.
Für Betroffene bedeutet das: Wer auf Bürgergeld angewiesen ist, muss die Fristen zur Weiterbewilligung im Blick behalten. Wer dazu aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, sollte frühzeitig Unterstützung organisieren. Andernfalls drohen – wie im vorliegenden Fall – existenzielle Folgen, die sich im Nachhinein oft nicht mehr rückgängig machen lassen.




