Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat klargestellt: Der Gesamt-Grad der Behinderung (Gesamt-GdB) entsteht durch eine wertende Gesamtbetrachtung. Einzel-GdB werden nicht addiert. Leichte zusätzliche Einschränkungen erhöhen den Gesamt-GdB oft nicht.
Im konkreten Fall blieb es deshalb bei GdB 30. Für viele Leser ist das wichtig. Sie erfahren, wie Behörden und Gerichte den Gesamt-GdB bilden und welche Nachweise im Verfahren wirklich tragen. (Az.: L 6 SB 284/22)
Inhaltsverzeichnis
Entscheidung und Kernaussagen des Urteils
Das LSG wies die Berufung eines Klägers ab. Er wollte eine höhere Erstfeststellung als GdB 30 erreichen. Das Gericht sah dafür keine tragfähigen Befunde zum maßgeblichen Zeitpunkt. Die außergerichtlichen Kosten wurden nicht erstattet. Die Entscheidung ist damit rechtskräftig.
Das Gericht betonte zentrale Grundsätze. Erstens: Der Gesamt-GdB folgt keiner Rechenformel. Zweitens: Maßstab ist die freie richterliche Beweiswürdigung auf Basis medizinischer Feststellungen. Drittens: Bei mehreren Beeinträchtigungen zählt, ob diese das Teilhabedefizit wesentlich vergrößern.
Leichte Störungen mit Einzel-GdB 10 erhöhen den Gesamt-GdB in der Regel nicht. Ein Einzel-GdB 20 führt vielfach ebenfalls nicht zu einer Erhöhung.
Warum die Addition von Einzel-GdB nicht funktioniert
Der Gesamt-GdB bewertet die Gesamtauswirkungen im Alltag. Gesundheitsstörungen können sich überlagern, verstärken oder kompensieren. Das Gericht startet mit dem höchsten Einzel-GdB. Dann prüft es, ob weitere Leiden das Ausmaß spürbar vergrößern.
Nur dann kommen +10, +20 Punkte oder mehr in Betracht. Eine Punkt-Addition ist ausgeschlossen. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und den versorgungsmedizinischen Grundsätzen.
Was im konkreten Fall entschied
Der Kläger erlitt 2018 eine schwere Verletzung am linken Sprunggelenk. Versorgungsärzte bewerteten das Funktionssystem „Beine“ mit Teil-GdB 30. Rücken und Psyche erreichten keinen eigenständigen, erhöhenden Einzel-GdB von 20 oder mehr.
Ein nach § 109 SGG eingeholtes Gutachten schlug zwar Gesamt-GdB 50 vor. Dazu fehlten aber objektive Befunde zum entscheidenden Zeitraum. Zudem sah der Gutachter selbst Therapiepotenzial. Das genügte nicht für eine dauerhafte zusätzliche Teilhabebeeinträchtigung. Ergebnis: Gesamt-GdB 30 bestätigt.
Maßgeblicher Zeitpunkt und Beweislast
Im Überprüfungsverfahren zählt, was bis zur angegriffenen Entscheidung aktenkundig war. Spätere Verschlechterungen spielen hier keine Rolle. Sie gehören in ein Änderungs- oder Neufeststellungsverfahren.
Wer Schmerzen oder psychische Folgen geltend macht, braucht objektivierte Befunde und eine nachvollziehbare Therapiegeschichte. Nur so lässt sich ein erhöhter Gesamt-GdB stützen.
Einzel-GdB sind nicht isoliert anfechtbar
Festgestellt wird rechtlich nur die (unbenannte) Behinderung und der Gesamt-GdB. Einzel-GdB stehen nur in der Begründung. Sie sind nicht gesondert angreifbar. Das ist für Verfahrenstaktik wichtig. Wer klagt, sollte die Gesamtwirkung belegen, nicht einzelne Zahlen.
So stärken Sie Ihren Antrag
Wer eine Höherstufung anstrebt, sollte gezielt vorgehen. Dokumentieren Sie dauerhafte Auswirkungen im Alltag. Sammeln Sie zeitnahe Arztberichte und funktionelle Befunde. Halten Sie eine konsequente Behandlung nachweisbar durch.
Dazu zählen Schmerz- und Psychotherapie, wenn sie angezeigt sind. Fehlen belastbare Anknüpfungstatsachen, bleibt der Gesamt-GdB meist unverändert.
Typische Missverständnisse und klare Grenzen
Der Beruf oder der Verlust einer bestimmten Tätigkeit spielen für den GdB keine Rolle. Der GdB misst Teilhabe, nicht Erwerbschancen. Mehrere kleine Leiden führen nicht automatisch zur Schwerbehinderteneigenschaft.
Zwei Einzel-GdB von 30 ergeben nicht zwingend 50. Entscheidend ist die Gesamtwirkung im Alltag.
Konkrete Schritte für Betroffene
Wenn Ihr Bescheid älter ist, prüfen Sie zwei Wege. Erstens: Überprüfung nach § 44 SGB X, wenn der alte Bescheid damals rechtswidrig war. Zweitens: Neufeststellung/Änderung, wenn Sie heute stärker beeinträchtigt sind. Sammeln Sie dafür aktuelle Befunde und Berichte aus Fachärzten, Reha und Therapie.
Führen Sie ein Beschwerde-Tagebuch mit Datum, Dauer, Dosis, Belastbarkeit und Hilfsbedarf. Das erhöht die Nachvollziehbarkeit Ihrer Angaben.