Jobcenter verlangte neue Schulden von Bürgergeld-Bezieher: Gericht stoppte Behörde

Lesedauer 3 Minuten

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in einem viel beachteten Urteil klargestellt, dass Jobcenter Bürgergeld-Beziehende nicht darauf verweisen dürfen, ihren Lebensunterhalt über neue Schulden zu sichern. Maßgeblich ist, ob Mittel dem oder der Leistungsberechtigten tatsächlich als „bereites Mittel“ zur Verfügung stehen.

Ein überzogenes Konto – und damit die bloße Möglichkeit, den Dispokredit weiter auszuschöpfen – erfüllt diese Voraussetzung nicht. Die Entscheidung (Az. B 4 AS 9/20 R) datiert vom 24. Juni 2020 und präzisiert die Grenzen der Anrechnung von Einkommen im Bürgergeld-System.

Der Ausgangsfall: Steuererstattung trifft auf rotes Konto

Im Mittelpunkt stand ein alleinerziehender Vater, dessen Konto im Minus war. Er erhielt vom Finanzamt eine Steuererstattung von knapp 2.400 Euro. Das zuständige Jobcenter wertete diese Zahlung als einmaliges Einkommen, verteilte sie auf sechs Monate und minderte die Leistungen monatlich um 400 Euro abzüglich einer Versicherungspauschale von 30 Euro.

In der Praxis blieb dem Mann dennoch kein frei verfügbares Guthaben: Die Erstattung glich automatisch den Dispositionskredit aus, das Konto wies trotz Gutschrift weiterhin einen negativen Saldo von rund 360 Euro aus. Gleichzeitig fielen auf den Dispo Zinssätze von 12,55 Prozent an – eine spürbare Belastung, die den Lebensunterhalt zusätzlich erschwerte.

Der Rechtsstreit: Zuflussprinzip versus tatsächliche Verfügbarkeit

Rechtsdogmatisch berührte der Fall das sogenannte Zuflussprinzip im SGB II: Einkommen gilt grundsätzlich in dem Monat als zugeflossen, in dem es verfügbar wird. Die entscheidende Frage lautete daher, ob die Steuererstattung – trotz sofortiger Verrechnung mit dem Sollsaldo – als „bereites Mittel“ anzusehen war.

Denn nur dann dürfte sie leistungsmindernd berücksichtigt werden. Der Kläger argumentierte, er habe die Erstattung faktisch nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts einsetzen können. Das Jobcenter hielt dem entgegen, er hätte den eingeräumten Disporahmen nutzen können, um seinen Bedarf zu decken.

Die Instanzen: Korrektur eines zu engen Blicks

Das Sozialgericht Gelsenkirchen wies die Klage zunächst ab. Erst das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen korrigierte diesen Ansatz und sprach dem Kläger höhere Leistungen zu. Es stellte klar, dass erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht darauf verwiesen werden dürfen, zur Sicherung des Existenzminimums zusätzliche Schulden aufzunehmen, zumal unter der Last erhöhter Dispozinsen.

Dieser Linie folgte das Bundessozialgericht und wies die Revision des Jobcenters zurück. Damit setzte die höchste sozialgerichtliche Instanz einen deutlichen Akzent: Disposchulden und die Möglichkeit, sie auszuweiten, sind kein Einkommen.

„Bereite Mittel“ im Lichte der Lebenswirklichkeit

Das BSG bestätigte zwar den Grundsatz, dass Steuererstattungen regelmäßig als Einkommen zu berücksichtigen sind. Maßgeblich sei jedoch die reale Zugriffsmöglichkeit. Wo eine Gutschrift ausschließlich eine bestehende Verbindlichkeit ausgleicht und kein positives Kontoguthaben entsteht, fehlt es an der tatsächlichen Verfügbarkeit.

Der Wertzuwachs bleibt buchhalterisch, nicht lebenspraktisch. Die Annahme des Jobcenters, die laufende Inanspruchnahme eines Dispositionskredits zur Bestreitung der täglichen Lebensführung sei „lebensnah“, überzeugte das Gericht nicht. Das Existenzminimum darf nicht über die Aufnahme neuer Schulden gewährleistet werden.

Ist Ihr Bürgergeld-Bescheid korrekt?

Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.

Bescheid prüfen

Konsequenzen für die Verwaltungspraxis der Jobcenter

Die Entscheidung verpflichtet Jobcenter zu einer differenzierten Betrachtung von Geldeingängen auf überzogenen Konten. Es genügt nicht, auf abstrakte Kreditlinien oder formale Zuflüsse zu verweisen.

Erforderlich ist eine Prüfung, ob der Betrag in der Realität zur Deckung des Bedarfs eingesetzt werden konnte. Wird ein Minus lediglich reduziert oder ausgeglichen, fehlt es am „bereiten Mittel“. In der Folge scheidet eine Anrechnung als Einkommen aus.

Auch die Erwägung, Betroffene könnten den Dispo ausweiten oder erneut ausschöpfen, ist rechtlich unbeachtlich, weil damit eine Verschuldung erzwungen würde.

Bedeutung für Leistungsberechtigte: Recht auf schuldenfreien Existenzschutz

Für Bürgergeld-Beziehende stärkt das Urteil den Anspruch auf eine Schuldenfreiheit des Existenzminimums. Wer nachweislich keinen Zugriff auf ein aktives Guthaben hat, muss sich nicht auf teure Kredite verweisen lassen.

Praktisch empfiehlt es sich, Kontoauszüge, Zinsnachweise und Bankmitteilungen sorgfältig zu dokumentieren, um die tatsächliche Nichtverfügbarkeit eines Zuflusses belegen zu können. Wo Jobcenter dennoch anrechnen, eröffnet das Urteil substanzielle Chancen in Widerspruchs- und Klageverfahren.

Einordnung im System des SGB II/Bürgergeld

Das BSG bestätigt die lange gewachsene Linie, wonach nicht jeder Geldfluss rechtlich Einkommen ist. Der Schutz des soziokulturellen Existenzminimums verlangt eine Betrachtung der realen Verfügungsmacht statt einer rein formalen. Dabei bleibt das Zuflussprinzip bestehen, wird aber durch das Erfordernis der tatsächlichen Verfügbarkeit konturiert.

Das Urteil verhindert eine Aushöhlung des Grundsicherungsanspruchs durch Verschuldungsdruck und setzt Grenzen gegenüber einer Verwaltungspraxis, die auf Kreditlinien als Ersatz für staatliche Leistung setzt.

Missverständliche Überschriften und klare Sachlage

Vereinzelt kursierende Überschriften zum Themenfeld Grundsicherung und „Lebensmittelspenden“ sind von diesem Fall zu unterscheiden. Im hier entschiedenen Verfahren ging es ausschließlich um die Anrechnung einer Steuererstattung bei einem überzogenen Konto und um die Frage, ob Dispokredite als „bereite Mittel“ gelten. Das BSG hat dies eindeutig verneint.

Fazit: Kein Existenzschutz auf Pump

Das Urteil des Bundessozialgerichts setzt ein klares Signal: Das Existenzminimum darf nicht vom guten Willen der Banken und den Konditionen eines Dispokredits abhängen.

Wo eine Gutschrift lediglich ein Minus verringert und kein frei verfügbares Plus entsteht, fehlt es an „bereiten Mitteln“. Jobcenter dürfen in solchen Konstellationen Leistungen nicht kürzen und Leistungsberechtigte nicht in neue Schulden drängen. Der Schutz der Menschenwürde im Bürgergeld-System ist damit ein Stück weit praxistauglicher ausgestaltet.