Schwerbehinderung: Behörde kürzt GdB wegen „zu gutem Leben“ – Gericht gibt Recht

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Ein Gerichtsurteil aus Nordrhein-Westfalen sorgt für Unruhe bei vielen Menschen mit Schwerbehinderung: Wer beruflich oder gesundheitlich wieder besser klarkommt, muss unter Umständen damit rechnen, dass ihm der Grad der Behinderung (GdB) herabgesetzt wird. Und das hat spürbare Folgen – vom Wegfall finanzieller Hilfen bis zum Verlust des Schwerbehindertenausweises.

Was paradox klingt, ist Realität im deutschen Sozialrecht. Und genau deshalb ist es wichtig, zu verstehen, wann Behörden den GdB kürzen dürfen – und was man dagegen tun kann.

Der Fall: Vom psychisch kranken Schüler zum Chemikanten

Der Fall, den das Landessozialgericht NRW im Jahr 2024 entschieden hat, beginnt bereits 2012: Damals wurde einem 16-jährigen Schüler ein GdB von 50 zugesprochen. Der junge Mann litt unter starken sozialen Ängsten, depressiven Episoden und einer ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie). Damit war er offiziell schwerbehindert – und hatte Anspruch auf Nachteilsausgleiche wie den Mehrbedarf nach SGB II oder besondere Hilfen im Arbeitsleben. (Az: L 6 SB 198/21)

Doch dann wendete sich das Blatt: Der Betroffene machte sein Abitur, begann ein Studium, wechselte in eine Ausbildung zum Chemikanten und arbeitet heute unbefristet in einem Labor. Er hat Freunde, Hobbys und lebt weitgehend selbstständig. Eine Erfolgsgeschichte – sollte man meinen.

Doch diese Entwicklung war für die Behörde Anlass zur Nachprüfung. Die Versorgungsverwaltung startete ein Verfahren nach § 48 SGB X und kürzte den GdB von 50 auf 40. Die Folge: kein Anspruch mehr auf einen Schwerbehindertenausweis. Der Kläger wehrte sich – erfolglos.

Warum der GdB herabgesetzt wurde

Die Entscheidung der Behörde stützte sich auf mehrere medizinische Gutachten, die im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens eingeholt wurden. Diese kamen zu dem Ergebnis, dass die ursprünglich festgestellte soziale Phobie nicht mehr nachweisbar sei. Auch die depressive Symptomatik habe sich verändert:

Aus der früher diagnostizierten schweren Depression sei eine leichtere, chronische Verlaufsform – eine sogenannte Dysthymie – geworden. Zudem spiele die Legasthenie, die während der Schulzeit eine erhebliche Einschränkung dargestellt hatte, im heutigen Alltag des Betroffenen keine relevante Rolle mehr.

Da bei Erwachsenen eine Lese-Rechtschreib-Störung laut den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen grundsätzlich nicht mehr als eigenständige Behinderung anerkannt wird, könne sie bei der Bewertung des Gesamt-GdB nicht mehr berücksichtigt werden.

In der Summe ergab sich dadurch rechnerisch ein Gesamtgrad der Behinderung von nur noch 40 – und damit zu wenig für die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises. Sowohl das Sozialgericht als auch das Landessozialgericht bestätigten diese Herabstufung. Sie betonten, dass eine Anpassung des GdB rechtlich zulässig ist, wenn sich die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlich verbessert hat.

Was viele nicht wissen: Der GdB ist kein Dauerrecht

Der GdB ist kein „Ruhestandsausweis“, den man einmal bekommt und dann für immer behält. Rechtlich ist der Bescheid ein sogenannter Dauerverwaltungsakt unter Vorbehalt. Das bedeutet:

  • Ändern sich die gesundheitlichen Verhältnisse wesentlich, darf die Behörde den GdB für die Zukunft kürzen.
  • Schon eine Differenz von 10 Punkten kann für eine Änderung ausreichen.
  • Wichtig: Die Kürzung gilt nicht rückwirkend – eine rückwirkende Herabsetzung wäre rechtswidrig.

In der Praxis heißt das: Wer durch Therapie, Medikamente oder stabile Lebensverhältnisse besser klarkommt, läuft Gefahr, seine Nachteilsausgleiche zu verlieren – selbst wenn er weiterhin Einschränkungen hat.

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Die Folgen einer GdB-Kürzung – besonders im SGB II

Gerade für Menschen im Bürgergeldbezug (früher Hartz IV) kann die Herabsetzung des GdB drastische Auswirkungen haben. Ein Überblick:

Vorher (GdB 50) Nachher (GdB 40) Was fällt weg?
Schwerbehindertenausweis mit evtl. Merkzeichen G/B Kein Ausweis mehr Keine Parkerleichterung, keine ÖPNV-Vergünstigungen
Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II Kein Anspruch mehr Bis zu 17 % weniger monatlich
Höherer Freibetrag beim Einkommen Nur Grundfreibetrag Weniger anrechnungsfreies Einkommen
Kündigungsschutz nach SGB IX Kein besonderer Schutz Jobverlust wird leichter möglich
Integrationshilfen im Beruf Eingeschränkt Weniger Unterstützung durch das Integrationsamt

Natürlich kommt es auf den Einzelfall an. Wer z. B. ein anerkanntes Merkzeichen hat, kann gewisse Vorteile auch mit GdB 40 behalten – aber viele finanzielle und praktische Vorteile hängen am Schwerbehindertenausweis.

Was Betroffene tun können – und tun sollten

Niemand muss eine GdB-Kürzung einfach hinnehmen. Wenn die Behörde ein Nachprüfungsverfahren einleitet oder ein Herabsetzungsbescheid kommt, sollten Betroffene sofort reagieren. Hier die wichtigsten Tipps:

1. Medizinische Unterlagen aktuell halten

Gutachten beruhen oft auf alten Daten. Deshalb: Aktuelle Atteste und Befunde vom Hausarzt oder Facharzt einholen. Auch Einschätzungen über den Alltag sind wichtig – z. B. bei Erschöpfung, Arbeitsunfähigkeit oder sozialer Isolation.

2. Eigene Teilhabeeinschränkungen klarmachen

Nicht nur die Diagnose zählt – sondern wie stark die Krankheit das Leben einschränkt. Wer z. B. trotz Job regelmäßig ausfällt, auf Medikamente angewiesen ist oder Unterstützung im Alltag benötigt, sollte das schriftlich festhalten.

3. Widerspruch einlegen – aber rechtzeitig!

Gegen eine GdB-Kürzung kann man innerhalb eines Monats Widerspruch einlegen. Wird diese Frist verpasst, bleibt oft nur ein neuer Antrag – mit ungewissem Ausgang.

4. Persönliche Anhörungen nutzen

Viele Gutachter urteilen nur nach Aktenlage. Deshalb: Zur Untersuchung Begleitpersonen mitnehmen, die aus dem Alltag berichten können – besonders bei psychischen Erkrankungen.

5. Alternativen prüfen

Fällt der GdB unter 50, gibt es vielleicht andere Hilfen: z. B. Erwerbsminderungsrente, Reha-Leistungen oder Zuschüsse zur Teilhabe am Arbeitsleben. Hier kann auch eine Sozialberatung helfen.

Fortschritt kann teuer werden

Das Urteil zeigt klar: Wer sich gesundheitlich oder beruflich stabilisiert, kann den GdB – und damit viele Nachteilsausgleiche – verlieren. Für Behörden ist das konsequent, für Betroffene aber oft ein Schock.

Gerade im SGB II bedeutet der Verlust eines GdB von 50 nicht nur das Ende von ein paar „Vorteilen“ – sondern ein reales Minus im Geldbeutel, weniger Schutz im Job und eingeschränkte Unterstützung.

Deshalb gilt: Jede GdB-Überprüfung ernst nehmen, gut vorbereiten und rechtzeitig handeln. Denn im deutschen Sozialrecht zählt nicht nur, wie man sich fühlt – sondern was man beweisen kann.