Die Frage, ob Abschläge aus einer vorzeitig bezogenen Rente lebenslang „kleben bleiben“, beschäftigt seit Jahren Betroffene, Berater und Gerichte.
Zwei Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zeigen wichtige Leitplanken: Der 13. Senat stellte klar, dass eine spätere Regelaltersrente nicht mit Abschlägen belastet werden darf, wenn ein Haftpflichtversicherer die zuvor bezogene vorzeitige Altersrente vollständig an den Rentenversicherungsträger erstattet hat.
Ende 2024 präzisierte der 5. Senat die Grenze für Fälle mit vorgelagerter Erwerbsminderungsrente – ohne Erstattung bleibt es bei Abschlägen. Zusammen zeigen die Urteile, wann der Zugangsfaktor wieder „auf 1,0“ springt – und wann nicht.
Inhaltsverzeichnis
Abschläge verschwinden, wenn die vorgezogene Altersrente vollständig erstattet wurde
Ausgangspunkt war ein Versicherter, der nach einem Unfall von März 2006 bis Mai 2010 eine vorgezogene Altersrente mit einem Zugangsfaktor von 0,847 bezog. Beim Übergang in die Regelaltersrente führte die Rentenversicherung diesen abgesenkten Faktor fort – obwohl die vorzeitige Rente dem Träger im Wege des Regresses vollständig durch den Haftpflichtversicherer ersetzt worden war.
Das BSG hob die Fortschreibung auf und entschied: Für die bereits „verbrauchten“ Entgeltpunkte gilt ausnahmsweise wieder der volle Zugangsfaktor 1,0. Die Richter begründeten dies mit einer planwidrigen Regelungslücke und einer analogen Anwendung von § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB VI. Wirtschaftlich entspreche die vollständige Erstattung dem Fall, dass die Rente „nicht mehr vorzeitig in Anspruch genommen“ wurde; die Versichertengemeinschaft werde nicht belastet.
Rechtliche Einordnung: Zugangsfaktor, Entgeltpunkte und der Rechtsgedanke hinter § 77 SGB VI
Der Zugangsfaktor steuert, in welchem Umfang Entgeltpunkte beim Monatsbetrag einer Rente berücksichtigt werden. Wer eine Altersrente vorzeitig in Anspruch nimmt, akzeptiert dauerhaft eine Minderung – pro Monat 0,003 unter 1,0.
Dieses System soll unterschiedliche Bezugsdauern fair ausgleichen und vorgezogene Rentenbezüge solidarisch abbilden. Der 13. Senat betont jedoch, dass dieser Ausgleichsgedanke ins Leere läuft, wenn der Rentenversicherungsträger die vorzeitig gezahlten Leistungen vollständig ersetzt bekommt.
Dann fehlt die zusätzliche Belastung der Versichertengemeinschaft, die die Absenkung ursprünglich rechtfertigt; folgerichtig ist der Zugangsfaktor im Ergebnis wieder auf 1,0 anzuheben.
Die Entscheidung 2024: Ohne Erstattung der EM-Rente bleibt der Abschlag
Im Urteil vom 19. Dezember 2024 hatte das BSG eine andere Ausgangslage zu bewerten: Die Klägerin bezog vor der Regelaltersrente eine Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Abschlägen. Der Haftpflichtversicherer erstattete später zwar entgangene Beiträge, nicht aber die an die Klägerin gezahlte EM-Rente selbst.
Die Frau verlangte dennoch eine abschlagsfreie Regelaltersrente. Der 5. Senat wies die Revision zurück: Ohne vollständige Erstattung der zuvor gezahlten Rentenleistung bleibt es bei der gesetzlich angeordneten „Perpetuierung“ des einmal geminderten Zugangsfaktors in der Folgerente. Eine analoge Anwendung der 2017 entwickelten Grundsätze scheidet aus, weil der finanzielle Nachteil der Versichertengemeinschaft fortbesteht.
Verhältnis der beiden Urteile: Leitplanke und Grenze desselben Rechtsgedankens
Beide Entscheidungen folgen demselben dogmatischen Pfad: Maßgeblich ist, ob die Versichertengemeinschaft wirtschaftlich belastet wird. 2017 entfiel diese Belastung, weil der Haftpflichtversicherer die vorgezogene Altersrente komplett erstattet hatte. 2024 blieb sie bestehen, weil die Erwerbsminderungsrente nicht erstattet wurde; die bloße Ersetzung entgangener Beiträge reicht nicht aus.
Damit ist der Rechtsgedanke präzise konturiert: Nur eine vollständige Erstattung der tatsächlich gezahlten Rentenleistung eröffnet die Möglichkeit, den abgesenkten Zugangsfaktor in der anschließenden Regelaltersrente wieder auf 1,0 anzuheben.
Offene Flanke – aber kein Freifahrtschein: Gilt die Analogie auch bei erstatteter EM-Rente?
Der 5. Senat musste nicht entscheiden, ob die 2017 entwickelten Erwägungen bei einer vollständig erstatteten Erwerbsminderungsrente in gleicher Weise greifen würden.
Die Entscheidungsgründe deuten an, dass eine solche Gleichbehandlung in der Literatur befürwortet wird und dogmatisch möglich sein kann, wenn ein echter Leistungsregress die Rentenzahlungen vollständig ausgleicht. Verbindlich klargestellt ist das für EM-Fälle jedoch nicht; gesichert ist nur die verneinende Antwort, wenn die Erstattung der Rentenleistung fehlt.
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Praxisrelevanz: Worauf Betroffene und ihre Berater konkret achten sollten
Für Versicherte, die aufgrund eines fremdverschuldeten Ereignisses eine Rente vor der Regelaltersgrenze beziehen mussten, ist der Regress gegen den Schädiger zentral. Entscheidend ist, ob der Haftpflichtversicherer die konkret gezahlte Rente – nicht nur Beiträge oder Teilpositionen – vollständig an den Rentenversicherungsträger erstattet hat.
Nur dann wird der spätere Übergang in die Regelaltersrente ohne fortwirkende Abschläge möglich. In allen anderen Konstellationen bleibt der verminderte Zugangsfaktor grundsätzlich erhalten, weil das Gesetz die Vorteile und Nachteile unterschiedlicher Bezugsdauern dauerhaft „fortschreibt“. Die Fallprüfung ist dabei streng eins-zu-eins: Es zählt die tatsächlich geleistete Erstattung, nicht der hypothetische oder gescheiterte Regress.
Einordnung für die Beratungspraxis
Für Rentenberater und Rechtsanwälte folgt daraus ein klares Prüfprogramm im Einzelfall: Zunächst ist festzustellen, welche Rentenart vor der Regelaltersrente bezogen wurde und in welcher Höhe der Zugangsfaktor gemindert war.
Sodann ist aufzuklären, ob und in welchem Umfang der Rentenversicherungsträger im Rahmen des Sozialleistungsregresses Zahlungen vom Haftpflichtversicherer erhalten hat. Liegt eine vollständige Erstattung der vorzeitig gezahlten Rentenleistung vor, sollte die Festsetzung eines ungeminderten Zugangsfaktors für die Regelaltersrente verlangt und mit Verweis auf die BSG-Rechtsprechung begründet werden. Fehlt es daran, ist eine abschlagsfreie Regelaltersrente regelmäßig nicht durchsetzbar.
Fazit
„Von wegen Rentenabschlag“ gilt nur dort, wo die Rentenkasse wirtschaftlich nicht auf Kosten der Versichertengemeinschaft belastet wurde. Das BSG hat 2017 eine planwidrige Lücke geschlossen und die analoge Anwendung des § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB VI zugelassen, wenn die vorzeitig gezahlte Altersrente vollständig erstattet wurde.
2024 hat das Gericht die Gegenrichtung markiert: Ohne Erstattung der vorangegangenen Rentenleistung – hier der Erwerbsminderungsrente – bleibt der abgesenkte Zugangsfaktor in der Regelaltersrente bestehen.
Für Betroffene bedeutet das: Der Schlüssel zur abschlagsfreien Regelaltersrente nach vorzeitigem Rentenbezug ist der nachweislich vollständige Leistungsregress.
Quellenhinweise: BSG, Urteil vom 13.12.2017 – B 13 R 13/17 R (ausführliche Begründung, inkl. Analogie zu § 77 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 SGB VI); beck-aktuell zur gleichen Entscheidung; BSG, Urteil vom 19.12.2024 – B 5 R 9/23 R.