Die Diskussion um härtere Sanktionen im Bürgergeld erhält neue Dynamik. Der frühere Sozialrichter Rainer Schlegel, ehemals am Bundessozialgericht tätig, kommt in einem im Auftrag der arbeitgeberfinanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellten Gutachten zu dem Schluss, dass vollständige Bürgergeld-Leistungskürzungen unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Grundgesetz vereinbar sein können.
Diese Einschätzung stützt die Linie der Bundesregierung, die im Rahmen einer „Neuen Grundsicherung“ verschärfte Sanktionsinstrumente vorsieht, und stellt sich zugleich in Spannung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019, das den Sanktionsrahmen damals eng begrenzte.
Menschenwürde, Existenzminimum und Sozialstaat
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen zwei verfassungsrechtliche Grundpfeiler: die Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Artikel 1 Grundgesetz sowie das Sozialstaatsprinzip.
Aus beiden Prinzipien leitet sich das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ab. Sanktionen in der Grundsicherung bewegen sich seit jeher in diesem Spannungsfeld: Sie sollen Mitwirkungspflichten durchsetzen und Fehlanreize vermeiden, dürfen dabei aber weder das physische noch das soziokulturelle Existenzminimum dauerhaft unterschreiten.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 betonte, dass Kürzungen nur verhältnismäßig, zeitlich begrenzt und mit Rücksicht auf Härtefälle zulässig sind. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob Totalsanktionen – also das vollständige Streichen von Leistungen – überhaupt verfassungskonform gestaltet werden können, der neuralgische Punkt der aktuellen Debatte.
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Bescheid prüfenAussage des Gutachtens: „Können“ statt „Müssen“
Schlegels Gutachten setzt genau hier an. Es arbeitet mit einem konditionalen Befund: Totalsanktionen könnten verfassungsgemäß sein. Entscheidend seien die konkrete Ausgestaltung, strenge Voraussetzungen und ein enges Raster von Verfahrensgarantien. Hervorgehoben wird die Konstellation alleinstehender Leistungsberechtigter, bei denen – so die These – eine vollständige Leistungskürzung in Extremfällen in Betracht kommen könne.
Das „Können“ ist dabei nicht bloße semantische Nuance, sondern die juristische Schlüsselformel: Verfassungskonformität hängt danach nicht von der politischen Willensbekundung, sondern von der praktischen Ausgestaltung des Sanktionsregimes ab, etwa von klaren Zumutbarkeitsregeln, einer individualisierten Prüfung, effektiven Rechtsbehelfen, Härtefallklauseln und der Sicherung existenzieller Bedarfe in außergewöhnlichen Situationen.
Aus der Praxis: Würde und Wirklichkeit
Deutliche Kritik kommt aus der Beratungspraxis. Der Bürgergeld-Experte Detlef Brock vom Portal „gegen-hartz“ lehnt Totalsanktionen entschieden ab. Sein Einwand zielt auf die menschenrechtliche und sozialpolitische Dimension: Vollständige Leistungskürzungen untergraben die Würde des Menschen, deren Unantastbarkeit nicht relativiert werden dürfe.
Jenseits der normativen Ebene verweist der Einwand auf absehbare soziale Folgewirkungen: Notlagen, Überschuldung, gesundheitliche Belastungen und Obdachlosigkeit sind im Sanktionskontext keine abstrakten Risiken, sondern reale Gefahren, die sich mit der Tiefe und Dauer einer Kürzung erfahrungsgemäß verschärfen.
Und das Bundesverfassungsgericht?
Letztlich muss das Bundesverfassungsgericht erneut zum Schiedsrichter werden müssen. Es wird zu klären haben, ob und in welcher Ausgestaltung vollständige Leistungskürzungen mit Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip und dem Recht auf ein Existenzminimum vereinbar sind.