Wer krankheitsbedingt ausfällt, rechnet damit, dass das Krankengeld die laufenden Kosten auffängt, sobald die Entgeltfortzahlung des Arbeitgebers endet.
In der Praxis kann es jedoch passieren, dass Krankenkassen laufendes Krankengeld mit offenen Beitragsforderungen verrechnen. Die Auszahlung fällt dann sofort geringer aus – nicht selten genau in einer Phase, in der finanzielle Spielräume ohnehin fehlen. Der Konflikt verschärft sich, wenn bereits Schulden, Unterhaltspflichten oder eine laufende Insolvenzlage hinzukommen.
Für Betroffene geht es um die Frage, ob das Existenzminimum noch gedeckt ist und ob eine Maßnahme, die Beitragsrückstände abbauen soll, zugleich dazu führt, dass am Ende Bürgergeld oder Sozialhilfe beantragt werden muss.
Die gesetzliche Grundlage und ihre eingebaute Grenze
Die sozialrechtliche Aufrechnung ist in § 51 SGB I geregelt. Danach kann ein Leistungsträger – dazu gehören auch Krankenkassen – mit Beitragsansprüchen gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zur Hälfte aufrechnen.
Das Gesetz zieht jedoch eine klare Schranke: Die Aufrechnung ist in dieser Höhe nur zulässig, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er durch die Aufrechnung hilfebedürftig im Sinne des SGB II oder SGB XII wird.
Diese Formulierung klingt nach einer Beweislast beim Versicherten, und genau so wird sie in der Praxis häufig verstanden. Gleichzeitig bleibt aber das sozialrechtliche Verfahrensprinzip bestehen, dass Behörden Sachverhalte von Amts wegen aufklären müssen. Zwischen „Mitwirkung“ und „amtlicher Ermittlung“ entsteht an dieser Stelle ein Spannungsfeld – und genau dort setzt die Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg an.
Hilfebedürftigkeit: Was damit gemeint ist – und warum es nicht um Gefühl, sondern um Berechnung geht
Hilfebedürftigkeit ist kein unbestimmtes Härtegefühl, sondern ein Rechtsbegriff. Gemeint ist die Situation, in der das anrechenbare Einkommen nach Abzug der maßgeblichen Bedarfe nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt nach den Maßstäben des SGB II oder SGB XII zu sichern. Entscheidend sind daher Zahlen: verfügbare Einnahmen, angemessene Unterkunftskosten, Regelbedarfe und – je nach Lage – weitere rechtlich zu berücksichtigende Positionen.
In Streitfällen wird häufig unterschätzt, dass nicht jede Aufrechnung „bis zur Hälfte“ automatisch unproblematisch ist. Denn selbst wenn eine Person rechnerisch knapp über dem Existenzminimum liegt, kann der Betrag, der oberhalb dieses Niveaus verbleibt, deutlich unter der hälftigen Aufrechnungsmöglichkeit liegen. Eine mechanische Anwendung der „Hälfte“ kann dann gerade das verursachen, was § 51 SGB I verhindern will: den Wechsel der Zuständigkeit hin zu Grundsicherungssystemen.
Der Fall: Insolvenz, Krankheit, Beitragsrückstände – und ein Jobcenter, das nicht wusste, was es bescheinigen soll
In dem Verfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ging es um einen Versicherten, der nach Aufhebung eines Insolvenzverfahrens in der Wohlverhaltensphase war.
Die Krankenkasse hatte offene Beitragsforderungen, die zur Insolvenztabelle angemeldet waren. Als der Mann arbeitsunfähig erkrankte und Krankengeld bewilligt bekam, zahlte die Kasse zunächst nur die Hälfte aus und leitete die Aufrechnung ein.
Der Versicherte machte geltend, dass er das Krankengeld für den Lebensunterhalt brauche, und legte Unterlagen vor, die seine finanzielle Lage nachvollziehbar abbildeten, darunter Mietkosten und Unterhaltsverpflichtungen.
Die Kasse verlangte dennoch Unterlagen des zuständigen Sozialleistungsträgers und stellte sich im Ergebnis auf den Standpunkt, Hilfebedürftigkeit könne nur von Jobcenter oder Sozialamt „festgestellt“ werden.
Genau hier zeigte sich ein praktisches Problem, das viele Betroffene kennen: Eine Bescheinigung „für den Fall einer Aufrechnung“ ist kein Standardprodukt der Behörden. Im entschiedenen Fall versuchte der Antragsteller, eine solche Bestätigung beim Jobcenter zu erhalten – ohne Erfolg. Dass eine Behörde eine bestimmte Bescheinigung nicht ausstellt, kann Betroffene aber nicht rechtlos stellen, wenn das Gesetz keinen bestimmten Nachweisweg vorschreibt.
Sozialgericht versus Landessozialgericht: Der Nachweis darf nicht auf eine einzige Bescheinigung verengt werden
Das Sozialgericht Berlin hatte den Eilantrag zunächst abgelehnt. Es verlangte im Ergebnis eine Bedarfsberechnung oder Bescheinigung von Jobcenter oder Sozialamt und hielt die vorgelegten Unterlagen nicht für ausreichend.
Damit blieb die Aufrechnung faktisch wirksam, obwohl der Versicherte gerade vortrug, dass er dadurch in die Bedürftigkeit gedrängt werde.
Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hob diese Entscheidung auf. Es stellte zunächst klar, dass der Widerspruch gegen eine solche Aufrechnungsentscheidung keine aufschiebende Wirkung hat, weil sie als beitragsbezogene Maßnahme in den Anwendungsbereich des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG fallen kann. Wer sich dagegen wehren will, ist daher häufig auf gerichtlichen Eilrechtsschutz angewiesen.
In der Sache korrigierte das Landessozialgericht die Verengung des Nachweises. Zwar treffe Versicherte eine gesteigerte Mitwirkungsobliegenheit. Daraus folge aber nicht, dass ausschließlich Bescheide oder Bescheinigungen von Jobcenter oder Sozialamt vorzulegen seien.
Die Nachweisobliegenheit aus § 51 Abs. 2 SGB I hebe den Untersuchungsgrundsatz nicht auf. Die Krankenkasse müsse daher selbst Feststellungen treffen, ob Hilfebedürftigkeit durch die (noch andauernde oder erst bevorstehende) Aufrechnung eintritt.
Das Gericht bettete diese Sicht in die bereits bestehende Rechtsprechung ein, wonach Mitwirkungspflichten die Ermittlungslast zwar verschieben können, die Amtsermittlung aber nicht verschwindet.
Besonders greifbar wird die Entscheidung dort, wo das Gericht den Blick auf die tatsächliche Rechenarbeit lenkt: Das Landessozialgericht kam anhand der vorgelegten Daten zu dem Ergebnis, dass der Betrag, der oberhalb des existenzsichernden Bedarfs zur Verfügung stand, deutlich kleiner war als das, was die Krankenkasse tatsächlich aufgerechnet hatte.
Damit war nach der summarischen Prüfung im Eilverfahren nicht nur eine Härte plausibel, sondern die Rechtswidrigkeit der konkreten Aufrechnung ernstlich möglich.
Warum die Entscheidung für die Praxis so bedeutsam ist
Die Entscheidung nimmt ein verbreitetes Missverständnis aus dem Verfahren: „Nachweis“ wird im Alltag schnell mit „Bescheid vom Jobcenter“ gleichgesetzt. Das Gericht stellt dem eine realitätsnähere und rechtlich sauberere Sicht entgegen.
Wenn jemand keine existenzsichernden Leistungen bezieht, kann die drohende Hilfebedürftigkeit auch anders plausibel gemacht werden. Maßgeblich ist, ob die vorgelegten Unterlagen eine belastbare Bedarfs- und Einkommensbetrachtung erlauben und ob die Krankenkasse diese Angaben prüft und nachvollziehbar verarbeitet.
Damit verschiebt sich auch die Verantwortung. Krankenkassen können sich nicht darauf zurückziehen, dass nur eine andere Behörde Bedürftigkeit „bestätigen“ dürfe. Sie müssen die erforderlichen Feststellungen treffen und ihre Entscheidung so begründen, dass sie im Widerspruchs- und Klageverfahren überprüfbar ist.
Zugleich bleibt es für Versicherte klug, die eigene Mitwirkung ernst zu nehmen: Je strukturierter und vollständiger die Unterlagen sind, desto weniger Raum bleibt für pauschale Zweifel.
Was Betroffene aus dem Beschluss mitnehmen können
Die Linie des Landessozialgerichts läuft nicht auf einen Freifahrtschein hinaus. Wer sich auf § 51 Abs. 2 SGB I beruft, muss seine Lage nachvollziehbar machen. Neu ist jedoch der Maßstab, dass diese Nachvollziehbarkeit nicht an einer bestimmten Behördenbescheinigung hängt. In Konstellationen, in denen Jobcenter oder Sozialamt keine solche „Vorsorge-Bescheinigung“ ausstellen, wird der Zugang zu Rechtsschutz dadurch realistischer.
Gleichzeitig macht die Entscheidung das Problem des Verfahrensrechts sichtbar: Weil der Widerspruch gegen die Aufrechnung regelmäßig nicht von selbst „stoppt“, kommt es im Ernstfall darauf an, schnell gerichtlichen Eilrechtsschutz zu beantragen.
Das Landessozialgericht hat in der Sache nicht nur die aufschiebende Wirkung angeordnet, sondern auch die Vollziehung aufgehoben – ein Signal, dass existenzielle Einbußen während eines laufenden Rechtsstreits nicht einfach als hinzunehmender Kollateralschaden behandelt werden dürfen.
Quellen
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.03.2025 – L 14 KR 29/25 B ER (Volltext/Leitsätze, Entscheidungsdatenbank des Landes Brandenburg). § 51 SGB I (Aufrechnung), Gesetzestext, Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.01.2017 – B 13 R 33/16 BH (Mitwirkung und Amtsermittlung).




