Ein unterschriebener Mietvertrag ist beim Bürgergeld kein Freifahrtschein für die Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung. Wer im Haus von Eltern, Geschwistern oder anderen nahen Angehörigen wohnt und gegenüber dem Jobcenter Unterkunftskosten geltend macht, muss damit rechnen, dass Behörden und Gerichte genauer hinsehen als bei einem Mietverhältnis unter Fremden. Genau darum geht es in einem Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Oktober 2025 (L 2 AS 969/25): Trotz vorgelegtem Mietvertrag erkannte das Gericht keine Kosten der Unterkunft und Heizung an, weil nicht ausreichend belegt war, dass der Leistungsberechtigte im streitigen Zeitraum einer ernsthaften, durchsetzbaren Mietforderung ausgesetzt war.
Der Fall zeigt, wie schnell ein Mietvertrag innerhalb der Familie als bloße Formalie gewertet werden kann, wenn das tatsächliche Verhalten der Beteiligten nicht zu dem passt, was „auf dem Papier“ vereinbart wurde. Er macht zugleich deutlich, welche Bedeutung die eigene Darstellung gegenüber dem Jobcenter hat, wenn sie später im gerichtlichen Verfahren als Indiz gegen die Verbindlichkeit des Mietverhältnisses herangezogen wird.
Worum es beim Bürgergeld bei den Unterkunftskosten geht
Die Übernahme der Unterkunftskosten ist im Bürgergeldrecht grundsätzlich einfach formuliert: Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. In der Praxis hängt jedoch vieles daran, was „tatsächliche Aufwendungen“ im Einzelfall bedeuten. Es genügt nicht, dass Wohnraum genutzt wird oder dass ein Vertrag existiert. Entscheidend ist, ob der Leistungsberechtigte im jeweiligen Zeitraum rechtlich zu Zahlungen verpflichtet ist und ob diese Verpflichtung im Alltag erkennbar gelebt wird.
Gerade bei Familienkonstellationen verschwimmen die Grenzen zwischen unentgeltlicher Hilfe und einem echten Mietverhältnis. Viele Angehörige stellen Wohnraum vorübergehend oder dauerhaft kostenlos zur Verfügung, sei es aus Solidarität, aus praktischen Gründen oder weil man ohnehin zusammenlebt. Das ist sozial nachvollziehbar, führt aber im Bürgergeldrecht zu einer klaren Konsequenz: Wenn keine Zahlungspflicht besteht oder sie faktisch nicht eingefordert wird, entstehen keine Unterkunftskosten, die das Jobcenter übernehmen müsste.
Der Streitfall: WG-Zimmer im Haus des Bruders
Im entschiedenen Fall verlangte ein 1999 geborener Kläger für den Bewilligungszeitraum vom 1. November 2023 bis zum 31. Oktober 2024 Leistungen für Unterkunft und Heizung. Er lebte unter derselben Adresse wie seine Mutter und seine Brüder; Eigentümer des Hauses war nach den Angaben im Verfahren ein Bruder.
Zur Begründung legte der Kläger einen auf den 29. Oktober 2023 datierten Mietvertrag vor. Er war als Vertrag „für ein Zimmer (in einer Wohngemeinschaft)“ ausgestaltet, der Mietbeginn sollte am 1. November 2023 liegen. Vereinbart waren eine Kaltmiete von 500 Euro, eine Warmmiete von 600 Euro, zusätzlich eine Nebenkostenvorauszahlung von 100 Euro sowie eine Kaution von 1.000 Euro. Für Gas- und Heizkosten sah der Vertrag eine jährliche pauschale Verrechnung im Rahmen einer Jahresendabrechnung der Wohngemeinschaft vor.
Damit stand formal ein Vertragswerk im Raum, das auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Mietvertrag wirkt. Doch genau hier setzte der Konflikt mit dem Jobcenter an: Nicht der Vertragstext allein, sondern die Frage, ob das Mietverhältnis ernsthaft gewollt und im Alltag tatsächlich umgesetzt wurde, wurde zum Streitpunkt.
Warum das Jobcenter nur den Regelbedarf bewilligte
Das Jobcenter bewilligte Bürgergeld für den genannten Zeitraum lediglich in Höhe des Regelbedarfs, nicht jedoch für Unterkunft und Heizung. Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, blieb aber erfolglos. In der Begründung verwies das Jobcenter auf Zweifel am Bestehen und am Vollzug des Mietverhältnisses. Als problematisch wurden unterschiedliche Angaben des Klägers zu seiner Wohnsituation bewertet, außerdem der familiäre Charakter des Vertrags.
Besonders schwer wog ein Schreiben des Klägers vom 9. Januar 2024. Darin erklärte er handschriftlich unterschrieben, er zahle für das unbeheizte Zimmer derzeit keine Miete, die Familie lasse ihn kostenlos dort wohnen, und er wolle für Unterkunftskosten keinen Anspruch geltend machen, sondern lediglich den Regelsatz und den Krankenversicherungsschutz. Für das Jobcenter war das nicht nur ein Widerspruch zum späteren Vortrag, sondern ein starkes Signal, dass im Alltag kein Mietverhältnis gelebt wurde.
Das Sozialgericht: Beweisprobleme gehen zulasten des Leistungsberechtigten
Der Kläger klagte gegen den Widerspruchsbescheid. Das Sozialgericht Freiburg wies die Klage am 18. Februar 2025 ab (S 4 AS 1108/24). Es stellte darauf ab, dass der Kläger im Leistungszeitraum hinsichtlich Unterkunft und Heizung nicht hilfebedürftig gewesen sei, weil nicht nachgewiesen werden konnte, dass überhaupt eine ernsthafte Mietforderung bestand.
In sozialrechtlichen Verfahren ist das kein Nebenaspekt, sondern ein Grundsatz: Wer eine Leistung beansprucht, muss die Voraussetzungen dafür darlegen und im Zweifel belegen. Bleibt ein entscheidender Punkt trotz Aufklärung unklar, wirkt sich das in der Regel gegen denjenigen aus, der die Leistung verlangt.
Hinzu kamen aus Sicht des Sozialgerichts weitere Auffälligkeiten bei den Wohnverhältnissen. Die Situation sei für Außenstehende schwer nachvollziehbar gewesen. So hatte der Kläger nach seinen Angaben einen Mitbewohner, mit dem er Küche und Bad geteilt habe, nicht einmal namentlich gekannt. Außerdem habe der Bruder als Vermieter im Verfahren eingeräumt, zunächst nicht nachvollzogen zu haben, dass der Kläger tatsächlich in der betreffenden Wohnung gewohnt habe, obwohl er ihn im Alltag unterstützt habe. Solche Unschärfen sind für Gerichte nicht bloß Randnotizen, sondern Indizien dafür, dass die behauptete Wohn- und Vertragskonstellation eher an eine familieninterne Wohnmöglichkeit als an eine klassische, durchsetzbare Vermietung erinnert.
Das Landessozialgericht: Vertrag unter Verwandten braucht belastbare Anhaltspunkte
Gegen das Urteil des Sozialgerichts legte der Kläger Berufung ein. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg wies sie am 2. Oktober 2025 durch Beschluss zurück, und zwar ohne mündliche Verhandlung. Inhaltlich schloss sich der Senat den Überlegungen der Vorinstanz an und ergänzte die Begründung mit dem Blick auf die besondere Konstellation eines Mietvertrags unter nahen Angehörigen.
Ausgangspunkt bleibt auch für das Landessozialgericht § 22 SGB II: Anerkannt werden nur tatsächliche Aufwendungen, soweit sie angemessen sind. Dabei, so die in der Rechtsprechung seit Jahren anerkannte Linie, ist nicht erforderlich, dass im jeweiligen Monat bereits gezahlt wurde. Es reicht, dass eine wirksame, nicht dauerhaft gestundete Mietzinsforderung besteht, der der Leistungsberechtigte im betreffenden Zeitraum ausgesetzt ist. Genau an diesem Punkt scheiterte der Kläger nach Überzeugung des Senats: Er konnte nicht ausreichend nachweisen, dass sein Bruder eine ernsthafte Mietforderung tatsächlich geltend machte und dass der Kläger dem Risiko einer rechtlichen Durchsetzung im Streitzeitraum tatsächlich ausgesetzt war.
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Bescheid prüfenWas die Zweifel an der Ernsthaftigkeit im konkreten Fall nährte
Das Landessozialgericht stellte nicht pauschal darauf ab, dass innerhalb der Familie „ohnehin vieles anders läuft“. Es betonte vielmehr die Gesamtwürdigung mehrerer Umstände, die zusammengenommen gegen ein übliches, verbindliches Mietverhältnis sprachen.
Auffällig war aus Sicht des Gerichts, dass trotz ausbleibender Zahlungen keine erkennbaren Konsequenzen gezogen wurden. Gerade wenn der Vermieter – wie im Verfahren vorgetragen – auf Mieteinnahmen angewiesen gewesen sein soll, hätte man im normalen Geschäftsverkehr zumindest Mahnungen, Zahlungsaufforderungen oder im Extremfall eine Kündigung erwartet. Das Mietverhältnis blieb nach dem Vorbringen jedenfalls bis zum 23. Juli 2025 ohne Kündigung bestehen. Für den Senat war das ein Hinweis darauf, dass im Alltag eher die familiäre Verbundenheit als eine strikte Vermieter-Mieter-Beziehung die Wohnraumüberlassung prägte.
Hinzu kamen die widersprüchlichen Eigenerklärungen des Klägers. Das Schreiben vom 9. Januar 2024, in dem er sich selbst als mietfrei wohnend darstellte und ausdrücklich keine Unterkunftskosten beanspruchen wollte, stand quer zu dem späteren Prozessziel, Unterkunftskosten durchzusetzen. Das Landessozialgericht ließ zwar offen, ob darin rechtlich sogar ein Verzicht liegen könnte; für die Bewertung der Glaubhaftigkeit und des Bindungswillens war die Erklärung jedoch bedeutsam.
Auch die Unklarheiten der Wohnverhältnisse wirkten in dieselbe Richtung. Wenn Mitbewohner unbekannt bleiben, wenn die konkrete Nutzung von Räumen und Gemeinschaftsflächen verschwimmt und wenn selbst der Vermieter zeitweise den Eindruck erweckt, nicht sicher zu sein, ob der Kläger tatsächlich dort wohnt oder sich nur dort aufhält, dann wird es für Gerichte schwierig, aus dem Vertragstext auf eine im Alltag gelebte Mietbeziehung zu schließen.
Schließlich fiel dem Senat der zeitliche Zusammenhang zwischen Mietvertrag und Leistungsantrag auf. Der Vertrag trug dasselbe Datum wie der erneute Leistungsantrag, zudem sollte er ausdrücklich zugleich als Mietbescheinigung dienen. Das Gericht hielt es deshalb für naheliegend, dass der Vertrag auch in der Erwartung geschlossen wurde, das Jobcenter werde die Miete übernehmen. Ein solcher Zusammenhang macht einen Vertrag nicht automatisch unwirksam, erhöht aber die Anforderungen an Nachweise dafür, dass das Mietverhältnis unabhängig vom Leistungsbezug tatsächlich gewollt und durchgeführt wurde.
Warum bei Familienmietverträgen das gelebte Verhalten so wichtig ist
Die Entscheidung fügt sich in eine länger bestehende Linie der Sozialgerichtsbarkeit ein: Mietverträge unter Verwandten sind nicht grundsätzlich verdächtig und müssen nicht nach steuerrechtlichen Maßstäben „wie unter Fremden“ ausgestaltet sein. Was jedoch immer geprüft wird, ist der rechtliche Bindungswille und der tatsächliche Vollzug. Anders gesagt: Es geht darum, ob beide Seiten wirklich wollten, dass der Mieter zahlen muss und der Vermieter im Konfliktfall seine Forderung auch verfolgt.
Für Leistungsberechtigte bedeutet das in der Praxis eine erhebliche Verantwortung. Wer sich auf Unterkunftskosten beruft, muss die Mietforderung so darstellen können, dass sie auch ohne Jobcenterzahlung Bestand hätte. Wenn der Vermieter die Miete faktisch dauerhaft nicht verlangt, wenn Rückstände folgenlos bleiben und wenn die eigene Kommunikation gegenüber dem Jobcenter die Mietfreiheit nahelegt, wird es schwer, später eine ernsthafte Mietzinsforderung zu belegen.
Folgen für die Praxis: Bürgergeld, Familie und die Nachweisfrage
Der Beschluss macht deutlich, wie schnell ein Streit um Unterkunftskosten zu einer Frage der Belege und der Glaubwürdigkeit werden kann. In familiären Wohnsituationen ist es nicht ungewöhnlich, dass Zahlungen unregelmäßig erfolgen, dass Nebenkosten „mitlaufen“ oder dass man bei Engpässen auf spätere Ausgleichslösungen setzt. Sozialrechtlich kann genau diese Flexibilität zum Problem werden, wenn sie nach außen wie ein Verzicht auf eine Zahlungspflicht wirkt.
Wer innerhalb der Familie tatsächlich ein Mietverhältnis leben will, muss deshalb darauf achten, dass das Verhalten der Beteiligten mit dem Vertrag übereinstimmt und dass sich eine ernsthafte Forderung im Zweifel auch dokumentieren lässt. Umgekehrt zeigt die Entscheidung auch, dass sich Jobcenter nicht mit dem bloßen Hinweis auf „Familie“ begnügen dürfen, sondern konkrete Anhaltspunkte brauchen, um ein Mietverhältnis als nicht ernsthaft einzustufen. Im entschiedenen Fall lieferte allerdings gerade der Verfahrensverlauf selbst mehrere solcher Anhaltspunkte.
Ein Beschluss mit Signalwirkung – ohne pauschales Misstrauen
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat nicht gesagt, dass Mietverträge zwischen Geschwistern oder Eltern und Kindern im Bürgergeld grundsätzlich wirkungslos sind. Der Beschluss wirkt vielmehr wie eine Erinnerung daran, dass das Bürgergeld nur tatsächliche Bedarfe abdecken soll. Wo Wohnraum unentgeltlich überlassen wird, entsteht kein Bedarf für Unterkunftskosten. Wo ein Mietvertrag nur auf dem Papier existiert, ohne dass die Parteien ihn ernsthaft leben, bleibt es sozialrechtlich bei dieser Bewertung.
Für Betroffene ist das unerquicklich, weil die Grenze zwischen familiärer Hilfe und rechtlicher Verpflichtung oft nicht scharf gezogen wird. Für die Verwaltung und die Gerichte ist der Fall hingegen ein typisches Beispiel dafür, dass Sozialleistungen nicht an Vertragsformeln anknüpfen, sondern an die reale wirtschaftliche Belastung.
Quellen
Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.10.2025, Az. L 2 AS 969/25.
Sozialgericht Freiburg, Urteil vom 18.02.2025, Az. S 4 AS 1108/24 (Verfahrensangabe im Zusammenhang mit dem LSG-Beschluss).




