Jobcenter: Anspruch auf Bürgergeld trotz Geheimhaltung des Vaters – Urteil

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Der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ist nicht ausgeschlossen, wenn eine Mutter, durch Geheimhaltung des Namens des Vaters ihrer Tochter verhindert, dass Unterhaltsansprüche ihrer minderjährigen Tochter geltend gemacht werden können.

Für einen Leistungsausschluss im Bereich der Existenzsicherung nach dem SGB II ist eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erforderlich.

Der sog. Grundsatz der Nachrangigkeit von Leistungen nach dem SGB II rechtfertige den Leistungsausschluss im vorliegenden Fall nicht.

Die Weigerung der Mutter der Klägerin, den Namen des Vaters mitzuteilen, ist geeignet, einen Erstattungsanspruch wegen sozialwidrigen Verhaltens gemäß § 34 Abs. 1 SGB II zu begründen, was aber nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war und somit nicht berücksichtigt werden konnte (Orientierungssatz Detlef Brock)

Begründung: SG Speyer – S 6 AS 1011/15 – Versagung von Sozialleistungen an die minderjährige Tochter wegen fehlender Mitwirkung – Auskunftspflicht der Mutter über den leiblichen Vater

Zentrales Element des Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II ist die Hilfebedürftigkeit des Leistungsempfängers

Hilfebedürftig ist immer Jemand dann, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern könne und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält.

Hierdurch bringe der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass Leistungen nach dem SGB II Leistungen nicht für denjenigen erbracht werden sollen, der sich nach seiner tatsächlichen Lage selbst helfen kann.

Nur tatsächlich zufließendes Einkommen zählt im SGB II

Nach Auffassung des Gerichts sind nur die Leistungen relevant, die tatsächlich zufließen und nicht nur möglicherweise bestehen.

Zwar wird im beim ALG II die Selbstverantwortung des Hilfesuchenden und der Nachrang von Leistungen nach dem SGB II gegenüber anderen Sozialleistungen und Ansprüchen gegen Dritten normiert, die geeignet seien der Hilfebedürftigkeit entgegenzuwirken.

Unterhaltsansprüche – konkrete gesetzliche Regelung für den Leistungsausschluss fehlt im SGB II

Nach Auffassung des Gerichts mangelt es an einer konkreten gesetzlichen Regelung bei der Durchsetzung der Unterhaltssprüche. Denn Eine solche konkrete gesetzliche Regelung sei jedoch für den Leistungsausschluss im Bereich der Grundsicherung erforderlich.

ALG 2 Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens

Die Leistungen nach dem ALG II dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums folge.

Bei dem im SGB II verankerten Nachranggrundsatz handelt es sich aber um keine eigenständige Ausschlussnorm.

Hinweis des Gerichts:

Die Weigerung der Mutter der Klägerin, den Namen des Vaters mitzuteilen, ist geeignet, einen Erstattungsanspruch wegen sozialwidrigen Verhaltens gemäß § 34 Abs. 1 SGB II zu begründen, was aber nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei und somit nicht berücksichtigt werden konnte.

Fazit:

Der Anspruch auf Leistungen für eine minderjähriges Kind nach dem SGB II ist nicht ausgeschlossen, wenn eine Mutter, durch Geheimhaltung des Namens des Vaters ihrer Tochter verhindert, dass Unterhaltsansprüche ihrer minderjährigen Tochter geltend gemacht werden können ( Leitsatz Detlef Brock

Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock:

Die Entscheidung ist zu begrüßen, allerdings ist es nur schwer zu begreifen, warum das Gericht den Hinweis auf § 34 SGB Ii gibt.

Sollte das Jobcenter im Nachgang bei der Mutter versuchen den Namen des Vaters raus zu bekommen unter Androhung eines sozialwidrigen Verhaltens, empfehle ich den Gang zum Gericht!

Ganz andere Auffassung sind hier 2 weitere Gerichte

1. SG Gießen, Gerichtsbescheid. v. 04.12.2020 – S 29 AS 700/19: Fiktive Berücksichtigung von Unterhaltszahlungen bei Leistungen nach SGB II

Leitsatz Detlef Brock

1. Im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 SGB I muss eine hilfebedürftige Alleinerziehende dem JobCenter gegenüber den Namen des ihr bekannten Kindesvaters nennen, damit mögliche Unterhaltsansprüche realisiert werden können.

2. Dem steht weder das Persönlichkeitsrecht noch eine eingegangene Verpflichtung der alleinerziehenden Kindesmutter entgegen, den Namen des Kindesvaters nicht zu nennen.

2. SG Trier, Gerichtsbescheid v. 03.08.2015 – S 5 AS 150/15 –

Leitsatz (Gericht)

1. Die hilfebedürftige Mutter eines minderjährigen Kindes muss im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten nach § 60 SGB 1 dem Leistungsträger (Jobcenter) den ihr bekannten Vater des Kindes benennen, damit mögliche Unterhaltsansprüche durchgesetzt werden können.

2. Weder das Persönlichkeitsrecht der Mutter, noch der Umstand, dass der Kindsvater angeblich wegen einer Gewalttat inhaftiert ist, berechtigen dazu, diese Auskunft zu verweigern.

3. Die gesetzliche Wertung in § 1 Abs 3 Unterhaltsvorschussgesetz (juris: UhVorschG) mit der grundsätzlichen Verpflichtung bei der Feststellung der Vaterschaft oder des Aufenthalts des anderen Elternteils mitzuwirken, ist zu beachten.

Schlusswort von Detlef Brock

Für eine fiktive Anrechnung von Leistungen gibt es keine Rechtsgrundlage im SGB II ( ständige Rechtsprechung des BSG zum § 11 SGB II ).

Eine fiktive Anrechnung von zum Bsp. Kindergeld, Bafög, Wohngeld, Kinderzuschlag oder Renten ist im SGB II nach ständiger Rechtsprechung des BSG zum – Einkommen nach § 11 SGB II nicht möglich bzw. rechtswidrig!

1. Wenn die Unterhaltsvorschussstelle die Leistungen nach § 1 Abs. 3 UVG abgelehnt hat, kann das Jobcenter nicht nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II Leistungen nach dem SGB II teilweise entziehen bzw. versagen.

2. Als Anspruch nach dem SGB II sind nur die ihnen tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkünfte als Einkommen zu berücksichtigen ( ständige BSG Rechtsprechung ).

3. Werden die ALG II Leistungen wegen fehlender Beantragung dieser Leistungen und fehlender Mitwirkung teilweise oder ganz versagt, muss sofort Widerspruch eingelegt werden.

4.Wird diesem nicht innerhalb einer relativ kurzen Frist entsprochen ( denn hier leben sie gerade weit unter dem Existenzminimum ), sofort Eilklage beim Sozialgericht auf Auszahlung der Leistung.

Dabei müssen 2 Voraussetzungen erfüllt sein – 1. Anordnungsgrund( fehlende Geldmittel- Vorlage aktueller Kontoauszug und 2. Anordnungsspruch – meist gegeben bei Eilklage, weil es sich beim ALG Ii um das Existenzminimum handelt.

5. Der Regelungsbereich des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II ist nur dann eröffnet, wenn der Leistungsempfänger trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellt und stattdessen das Jobcenter einen solchen Antrag stellt.

6. Stellt der Leistungsempfänger den Antrag hingegen selbst, ist die Regelung nicht anwendbar.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Antragstellung aus freien Stücken oder nach Aufforderung des Jobcenters erfolgt war ( so ausdrücklich LSG NSB, mit Urteil vom 20.12.2019 – L 9 AS 538/19 -; ganz aktuell LSG Sachsen, Beschluss v. 03.01.2024 – L 4 AS 567/23 B ER – ).

7. Jedenfalls über den Umfang der Versagung oder Entziehung nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II bedarf es einer Ermessensentscheidung des Jobcenters (wie Sächsisches LSG, Beschluss vom 06.01.2023 – L 7 AS 591/22 B ER -).