Hartz IV: Sanktionsbescheid der Arge rechtswidrig

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Hartz IV: Sanktionsbescheid der Arge ist rechtswidrig, wenn der Leistungsträger bei Sanktionsentscheidung über die Regelleistung – nicht zeitgleich – auch über ergänzende Sachleistungen entschieden hat.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (AZ: L 7 B 211/09 AS ER) urteilte: Ein Sanktionsbescheid der Arge ist rechtswidrig, wenn der Leistungsträger bei Sanktionsentscheidung über die Regelleistung – nicht zeitgleich – auch über ergänzende Sachleistungen entschieden hat. Aus dem Urteil: Mit einem Sanktionsbescheid hob die Behörde die die Leistung des Arbeitslosengeldes II vollständig auf (Regelleistung und Kosten der Unterkunft). Für diesen Fall sind die Regelungen des § 31 Abs. 3 Satz 6 und 7 SGB II zu beachten: Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 vom Hundert der nach § 20 maßgebenden Regelleistung kann der zuständige Träger in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen (§ 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II). Der zuständige Träger soll diese Leistungen erbringen, wenn der Hilfebedürftige mit minderjährigen Kindern in Bedarfsgemeinschaft lebt (§ 31 Abs. 3 Satz 7 SGB II). Für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die – wie der Antragsteller – noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, nimmt § 31 Abs. 5 Satz 5 SGB II auf die vorgenannte Regelung des § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II Bezug.

Die Entscheidung über die Sanktion einerseits und die Gewährung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen andererseits sind eigenständige Verwaltungsentscheidungen. Das SGB II verknüpft sie in zeitlicher Hinsicht nicht, sondern lässt es zu, dass die Entscheidung über die Gewährung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen der Entscheidung über die Sanktion zeitlich auch nachfolgen kann.

Zur Überzeugung des Senats ist diese lose zeitliche Verbindung der beiden Verwaltungsentscheidungen in den Fällen, in denen der Grundsicherungsträger bei jungen Erwachsenen, die wie der Antragsteller das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 31 Abs. 5 Satz 1 SGB II), einen Wegfall des Arbeitslosengeldes II verfügt, durch eine verfassungskonforme Auslegung in der Weise zu reduzieren, dass der Grundsicherungsträger mit der Sanktionsentscheidung zeitgleich auch darüber entscheiden muss, ob im konkreten Fall ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erbringen sind.

Dieses Erfordernis zeitgleicher Entscheidung gilt zur Überzeugung des Senats auch für die sonstigen Fälle des vollständigen Wegfalles des Arbeitslosengeldes II und damit auch bei Erwachsenen, die das 25. Lebensjahr bereits vollendet haben. Denn ein hinreichender Grund für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht zu erkennen. In beiden Fällen ist der Gefährdung des physischen Existenzminimums Rechnung zu tragen.

Dieses Erfordernis verfassungskonformer Auslegung (Reduktion) ergibt sich aus Folgendem:

Die Gesetzgebung ist verfassungsrechtlich verpflichtet, dem grundgesetzlichen Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) Geltung zu verschaffen. Dabei kann sie einen Gestaltungsspielraum für sich in Anspruch nehmen, weil das Grundgesetz für die Umsetzung des Sozialstaatsgebotes keine konkreten Vorgaben macht (vgl. BSG, Urteil vom 22.04.2008, B 1 KR 10/07 R, Juris, m.w.N.).

Verpflichtet ist die Gesetzgebung von Verfassungs wegen jedoch, für Bedürftige jedenfalls das zur physischen Existenz Unerlässliche zu gewähren. Zu diesem das "nackte Überleben" sichernden "physischen Existenzminimum" (zur Abgrenzung zum soziokulturellen Minimum vgl. Soria, JZ 2005, S. 644 ff) gehören neben Obdach und ausreichender medizinischer Versorgung auch ausreichende Nahrung und Kleidung (BSG a.a.O.; Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16 Dezemeber 2008, L 10 B 2154/08 AS ER ). Die Verpflichtung der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung, diese existenziellen Bedarfe sicherzustellen, folgt aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Denn die Grundrechte enthalten nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt, sondern stellen zugleich Wertentscheidungen der Verfassung dar, aus denen sich Schutzpflichten für die staatlichen Organe ergeben (BVerfGE 117, 202, st. Rspr.). Die Regelungen der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begründen eine staatliche Schutzpflicht hinsichtlich der Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit sowie hinsichtlich der Würde des Menschen (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). Diese Schutzpflicht ist auch bei der Anwendung verfahrensrechtlicher Vorgaben zu berücksichtigen; ihr ist damit, soweit erforderlich, auch prozedural zu entsprechen (vgl. zum Grundrechtsschutz durch Verfahren zuletzt BVerfGE 117, 202). Einfachrechtlich ist zudem § 1 Abs. 1 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zu berücksichtigen, wonach das Recht des Sozialgesetzbuches dazu beitragen soll, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern.

Dieser verfassungsrechtlichen Schutzpflicht ist zur Überzeugung des Senats bei der Auslegung der Sanktionsnorm des § 31 SGB II in der dargelegten Weise Rechnung zu tragen. Denn ordnet der Grundsicherungsträger den Wegfall des Arbeitslosengeldes II gemäß § 31 SGB II an, besteht die konkrete Gefahr, dass dem Hilfebedürftigen im Sanktionszeitraum das zum (Über-)Leben Notwendige nicht zur Verfügung stehen wird. Der Grundsicherungsträger ist deshalb verpflichtet, vor Ausspruch der Sanktion den Hilfebedürftigen – z. B. im Rahmen der Anhörung gemäß § 24 Abs. 1 SGB X, soweit diese erforderlich ist – über die Möglichkeit zu informieren, ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erhalten zu können (so bereits LSG Berlin-Brandenburg aa.O.). Erst diese Information versetzt den Grundsicherungsträger in die Lage, das ihm insoweit durch § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II grundsätzlich eröffnete Ermessen ermessensfehlerfrei auszuüben gemäß § 39 Abs. 1 i.V.m. § 37 Satz 1 SGB I. Dieses Ermessen verdichtet sich ("soll") zu einer grundsätzlichen Leistungserbringungspflicht, wenn der Hilfebedürftige – wie hier der Fall – mit minderjährigen Kindern in Bedarfsgemeinschaft lebt (§ 31 Abs. 3 Satz 7 SGB II) und sofern kein atypischer Fall vorliegt, der eine Ermessensentscheidung ausnahmsweise (auch hier) erfordert.

Der Grundsicherungsträger wird die Reaktion des Hilfebedürftigen auf die vorherige Information über die ergänzenden Sachleistungen oder geldwerten Leistungen bei seiner Ermessensentscheidung gemäß § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II zu berücksichtigen haben. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG Berlin-Brandenburg (a.a.O.) reduziert sich hierbei das Ermessen nach Auffassung des Senats nicht stets in der Weise, dass ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen immer und zwingend zu erbringen wären. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Hilfebedürftige diese Form der Leistungserbringung ablehnt und seinen Lebensunterhalt im Sanktionszeitraum z. B. aus seinem liquiden Schonvermögen, soweit vorhanden, oder durch die Unterstützung von Freunden, Verwandten oder Dritten, auch wenn diese grundsicherungsrechtlich nicht einstandspflichtig sein mögen, bestreitet (vgl. hierzu auch LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O, Rn. 14).

Diesen rechtlichen Vorgaben ist die Antragsgegnerin nicht gerecht geworden. Dass der Antragsteller aufgrund vorangegangener Sanktionen Kenntnis von der Möglichkeit hatte, ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erhalten, ändert daran nichts. Denn der Grundsicherungsträger ist von Verfassungswegen verpflichtet, den Leistungsfall "unter Kontrolle zu halten", d. h. die Sanktion mit Initiativen zur angemessenen Bewältigung des Leistungsfalles zu begleiten (so bereits LSG Berlin-Brandenburg a.aO.). Zudem ist zweifelhaft, ob dem Antragsteller auch die weiteren Konsequenzen bewusst waren. So dürfte etwa der Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung davon abhängen, ob ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden oder nicht (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)). Im Übrigen war zu berücksichtigen, dass der Antragsteller u. a. mit einem erst wenige Monate alten Baby in Bedarfsgemeinschaft lebte, so dass die Gefahr bestand, dass sich die fehlende Bedarfsdeckung des Antragstellers im Sanktionszeitraum auch auf die weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft tatsächlich nachteilig auswirkte. (21.09.2009)

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