EM-Rente: Erwerbsminderungsrente 494 Euro mehr – Sozialgericht stoppt rechtswidrige Beschränkung

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Das Sozialgericht Dresden hat mit Entscheidung hat (Az. S 45 KR 697/21) einen Bescheid aufgehoben, mit dem eine gesetzliche Krankenkasse das sogenannte Dispositionsrecht ihres Versicherten beschnitten hatte. Der 1957 geborene Kläger erhält dadurch monatlich 494 Euro mehr Erwerbsminderungsrente, weil er den Rentenbeginn – entgegen der Auffassung der Krankenkasse – selbst bestimmen durfte.

Was war passiert?

Im Januar 2019 hatte die Kasse den Versicherten angewiesen, innerhalb einer Frist Leistungen zur Rehabilitation zu beantragen, und ihm zugleich untersagt, gegenüber der Rentenversicherung selbst über Form, Umfang und Zeitpunkt eines späteren Rentenantrags zu entscheiden.

Grundlage war § 51 Abs. 1 SGB V, der der Krankenkasse eine solche Aufforderung nur dann erlaubt, wenn „nach ärztlichem Gutachten“ die Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist. Ein solches Gutachten existierte zum Zeitpunkt des Bescheids nicht – weder in der Verwaltungsakte noch als externe Stellungnahme.

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Was ist das Dispositionsrecht in § 51 SGB V?

§ 51 SGB V verfolgt ein Ziel: Krankengeldzahlungen sollen nicht unnötig verlängert werden, wenn Reha-Leistungen Aussicht auf Erfolg bieten. Gleichzeitig greift die Norm tief in die Autonomie der Betroffenen ein und verlangt darum eine qualifizierte medizinische Basis. Ohne ärztliches Gutachten darf die Kasse weder die Antragsfrist setzen noch die Entscheidungsfreiheit des Versicherten beschneiden. So wird das „Reha-vor-Rente“-Prinzip kontrolliert, ohne die Dispositionsfreiheit willkürlich einzuschränken.

Warum der Zeitpunkt entscheidend ist

Die Krankenkasse versuchte vor Gericht, das Versäumnis durch ein späteres Gutachten aus dem Juli 2019 zu heilen.

Doch die Kammer stellte klar: Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage im Moment des Eingriffs. Ein nachträglich erstelltes Gutachten kann die ursprüngliche Entscheidung nicht legitimieren. Damit werteten die Richter das Fehlen der medizinischen Grundlage als materiellen Mangel, nicht als bloßen Verfahrensfehler – und verpflichteten die Kasse zur Rücknahme des Bescheids.

Von der Reha-Aufforderung zum Rentenantrag – das Zusammenspiel mit § 116 SGB VI

Parallel wirkte das System der Rentenantragsfiktion: Nach § 116 Abs. 2 SGB VI gilt ein Rehabilitationsantrag als Rentenantrag, wenn die Reha keine Aussicht auf Erfolg hat oder gar nicht erst durchgeführt wird. Genau das war hier passiert.

Die Rentenversicherung legte deshalb den Rentenbeginn rückwirkend auf den 1. Dezember 2018 fest. Der Kläger wollte jedoch einen späteren Beginn – den 1. September 2019 –, weil sich dadurch eine fast 500-Euro-höhere Monatsrente ergab.

Erst die Aufhebung der Dispositionsbeschränkung machte diesen späteren Zeitpunkt wieder möglich.

Tragweite für den Einzelnen

Der Fall zeigt, welche Folgen Verwaltungsfehler an der Schnittstelle zwischen Kranken- und Rentenversicherung haben können. Für den Kläger summiert sich der Vorteil auf knapp 6 000 Euro im Jahr. Das Urteil mahnt Krankenkassen, ihre Aufforderungs- und Eingriffsrechte mit der gebotenen Sorgfalt auszuüben. Gleichzeitig stärkt es das Vertrauen von Versicherten, dass Sozialleistungen nicht im Schatten formeller Schnellschüsse, sondern auf der Basis prüfbarer Tatsachen bewilligt oder verwehrt werden.
Sozialgerichtsbarkeit

Was Betroffene aus dem Urteil lernen können

Versicherte, deren Krankenkasse das Dispositionsrecht einschränkt, sollten umgehend prüfen, ob ein qualifiziertes Gutachten wirklich vorliegt. Fehlt es, lohnt sich ein Widerspruch oder – wie hier – ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X. Auch lohnt der Blick auf den Rentenantragsfiktion-Mechanismus des § 116 SGB VI: Wer den Rentenbeginn strategisch planen will, muss sicherstellen, dass eine Reha-Aufforderung nicht unbemerkt in einen vorgezogenen Rentenantrag umgedeutet wird.

Einordnung und Ausblick

Das Dresdner Urteil ist rechtskräftig; eine Berufung wurde nicht eingelegt. Damit fügt es der Rechtsprechung zu § 51 SGB V ein deutliches Signal hinzu: Eingriffe in die Dispositionsfreiheit genießen keinen Vertrauensschutz, wenn ihre Voraussetzungen ex ante fehlen.

Für Versicherte bleibt die Erkenntnis: Gutachten sind kein Formalismus, sondern die unabdingbare Grundlage dafür, dass Leistungskürzungen oder -verschiebungen gerechtfertigt sind. Genau darauf darf sich jeder Betroffene berufen.