Bürgergeld: Unzumutbare Pendelzeiten sind ein Umzugsgrund

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Eine Stunde Fahrtzeitverkürzung stellt einen plausiblen Umzugsgrund dar

Ein Umzug ist erforderlich, wenn er notwendig in dem Sinne ist, dass die bisherige Wohnung den Unterkunftsbedarf des Hilfebedürftigen nicht (mehr) zudecken vermag. Hierunter fallen etwa gesundheitliche Gründe, die einen Verbleib in der bisherigen Wohnung nicht zulassen, aber auch etwa ein Umzug zur Beseitigung unzumutbarer Pendelzeiten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Leitsatz Gericht).

Ein Umzug ist auch dann erforderlich, wenn er zwar nicht zwingend notwendig war, jedoch ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund für den Wohnungswechsel vorliegt, von dem sich auch ein Nichthilfebedürftiger leiten lassen würde (vgl BSG vom 24.11.2011 – B 14 AS 107/10 R), sofern die neue Wohnung nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist ( Leitsatz Gericht ).

So entschieden vom LSG Berlin – Brandenburg, Urt. v. 30.04.2020 – L 19 AS 2352/19 –

So argumentierte das LSG BB, dass ein Umzug immer erforderlich dann ist, wenn der Umzug in eine andere Wohnung notwendig in dem Sinne ist, dass die bisherige Wohnung den Unterkunftsbedarf des Hilfebedürftigen nicht (mehr) zu decken vermag.

Hierunter fallen z. Beispiel gesundheitliche Gründe, die einen Verbleib in der bisherigen Wohnung nicht zulassen, aber auch etwa ein Umzug, um unzumutbare Pendelzeiten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu beseitigen (vgl. § 140 Abs. 4 Satz 2 SGB III).

Verdacht auf Schimmelbefall

Das der Umzug notwendig war auf Grund des – erneuten – Schimmelbefalls der Wohnung, dafür bestanden zwar Anhaltspunkte, ob während des Umzugs aber auch noch gesundheitsgefährdende Zustände vorlagen, kann nicht genauer Sicherheit beantwortet werden.

Ein Umzug kann auch aus sonstigen, nachvollziehbaren Gründen erforderlich sein

Der § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II umfasst aber auch die Fälle, in denen der Umzug zwar nicht zwingend notwendig ist, aber aus sonstigen Gründen erforderlich erscheint ( BSG, Urt. v. 24. November 2011 – B 14 AS 107/10 R –

Ein Umzug ist aber (auch) dann erforderlich, wenn er zwar nicht „zwingend notwendig“ war, jedoch ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund für den Wohnungswechsel vorlag, von dem sich auch ein Nichtleistungsempfänger leiten lassen würde (BSG, Urteil vom 24. November 2011 – B 14 AS 107/10 R; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2009 – L 29 AS 1196/09 B ER – sofern die neue Wohnung nicht unverhältnismäßig teuer ist – sprich die Mehrkosten müssen sich im Rahmen halten.

Die Kosten der neuen Wohnung dürfen nach einem Umzug, der aus sonstigen Gründen erforderlich erscheint, in Anbetracht der mit dem Umzug gewonnenen Vorteile nicht unverhältnismäßig steigen und überdies die abstrakte Angemessenheitsgrenze nicht überschreiten, so dass BSG – B 14 AS 107/10 R -.

Diese Voraussetzungen lagen hier nach Auffassung des Gerichts vor.

Für den Umzug gab es einen plausiblen, nachvollziehbaren und verständlichen Grund. Denn er führte bei der Klägerin zu – einer erheblichen Zeiteinsparung!

Die Unzumutbarkeitsgrenzen des § 140 Abs. 4 Satz 2 SGB III können auf die vorliegende Konstellation nicht übertragen werden – so aber das Jobcenter!

Dem ist das Landessozialgericht entgegen getreten, indem es die Auffassung des Jobcenters nicht teile und urteilte:

Heranzuziehen ist, was würde ein Nichthilfebedürftiger tun würde

„Ein Nichthilfebedürftiger zieht nicht erst dann um, wenn Pendelzeiten von insgesamt mehr als zweieinhalb Stunden bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden oder von mehr als zwei Stunden bei einer Arbeitszeit von sechs Stunden überschritten sind.

Fahrtzeitverkürzung stellt einen plausiblen Umzugsgrund da

Je nach den Umständen des Einzelfalls kann vielmehr eine Fahrtzeitverkürzung einen plausiblen, nachvollziehbaren und verständlichen Grund für einen Umzug darstellen, wenn der zu erreichende Ort nach – im Vergleich – geringerer Pendelzeit erreichbar ist.

Ausschlaggebend ist, wie hoch durch den Umzug die Zeitersparnis insgesamt ist

Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang, wie hoch durch den Umzug die Zeitersparnis insgesamt ist, nicht das Unterschreiten einer starren Pendelzeit.

Eine Stunde Fahrtzeitverkürzung machen den Umzug erforderlich in diesem Einzelfall

Eine Stunde Fahrtzeitverkürzung stellt eine beachtliche Reduzierung dar, so die Richter, auch ein Nicht- Leistungsbezieher würde in diesem Fall aus der alten Wohnung ausziehen.

Höhere Kosten der Unterkunft nach dem Umzug sind im Vergleich zu den Vorteilen auch nicht unverhältnismäßig hoch

Die höheren Kosten der Unterkunft sind in Ansehung der mit dem Umzug gewonnenen sehr erheblichen Vorteile auch nicht unverhältnismäßig.

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock von Tacheles e.V.
Geniale Entscheidung des 19. Senats des LSG BB. Die Begründung gefällt mir besonders, denn auch schon die Vorinstanz hatte den Umzug als – erforderlich angesehen und das Jobcenter in die Schranken gewiesen!

Schlusswort

Wann ist ein Umzug für Bürgergeld – Empfänger erforderlich bzw. unzumutbar. Auf jeden Fall, wenn ein Umzug zur Beseitigung unzumutbarer Pendelzeiten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beiträgt.

Ein Umzug ist auch dann erforderlich, wenn er zwar nicht zwingend notwendig war, jedoch ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund für den Wohnungswechsel vorliegt, von dem sich auch ein Nichthilfebedürftiger leiten lassen würde, sofern die neue Wohnung nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist.

Was können solche Gründe sein? Beispiele

Kann eine alleinerziehende Mutter ihr eineinhalbjähriges Kleinkind aus gesundheitlichen Gründen nicht in den 4. Stock ihrer Wohnung tragen, kann dies ein solcher sachlicher Grund für einen Umzug sein.

Zieht Jemand in die Nähe eines Pflegebedürftigen, welcher von ihm seit Jahren gepflegt wird, kann dies ein Umzugsgrund sein, wovon sich auch ein Nicht- Leistungsempfänger leiten lässt.

Bei Streitigkeiten innerhalb einer Wohngemeinschaft und Zerrüttung der Wohnverhältnisse kann ein Umzugsgrund gegeben sein.

Hinsichtlich der Wohnungsgröße kann ein Umzug als erforderlich gelten bei der Unterschreitung der Untergrenzen.

Kranke und schwerbehinderte Menschen

Sind Leistungsberechtigte langfristig in erheblichem Umfange erkrankt oder liegt eine Schwerbehinderung vor, kann ein Umzug unzumutbar sein. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn im Schwerbehindertenausweis ein Merkzeichen eingetragen ist. Zudem kann ein Gutachten des Gesundheitsamtes/des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit herangezogen werden.

Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kind/ern

Für Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kind/ern kann ein Umzug unzumutbar sein, wenn der Sozialdienst einen Umzug aufgrund von familiären Problemlagen für nicht vertretbar hält.

Ausschlussgründe – wann wurde es nicht genehmigt vom Jobcenters

Wünschenswerte Umzüge werden nicht genehmigt

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien macht allein der Wunsch zweier erwachsener Personen, die mit einem zweijährigen Kleinkind in einer 55 qm großen Wohnung wohnen nach mehr Wohnraum den Umzug nicht erforderlich, lässt diesen vielmehr nur als wünschenswert erscheinen ( LSG NRW,,Beschlüsse vom 21.05.2012,- L 12 AS 609/12 B ER – und – L 12 AS 610/12 B – ).

Schlussbemerkung:
In den Verwaltungsvorschriften zur Erforderlichkeit beim Umzug verweisen die Jobcenter immer wieder auf § 140 Abs. 4 SGB III, gerade welchen das Landessozialgericht nicht gefolgt t ist.

Diese internen Anweisungen haben nur Bestimmung für die Mitarbeiter, für das Gericht sind sie nicht bindend!

Ein Umzug zur Beseitigung unzumutbarer Pendelzeiten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ist erforderlich im Sinne des § 22 SGB 2, sofern die neuen Kosten der Unterkunft im Verhältnis zum Vorteil nicht unverhältnismäßig hoch sind, eine Kostensteigerung bei den KdUH um 170% ist nicht angemessen und die Umzugserforderlichkeit somit hinfällig!( Hinweis BSG B 14 AS 107/10 R ).

Lesetipp

Die Ampel möchte wohl am Liebsten Hartz IV – vielleicht auch Hartz V oder wenn nicht sogar die Sozialhilfe zurück – Was planen die Macher da oben?

Zumutbarkeit verschärft: Bürgergeld-Bezieher sollen 3 Stunden pendeln – sonst Sanktionen – Ein Beitrag meiner Kollegin Carolin-Jana Klose.

Hinweis
Wissen ist Macht liebe Bürger und Leser! Vielleicht konnte ich Euch bei euren Problemen etwas helfen, denn ich kann ein Wissen im Sozialrecht (Bürgergeld, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld 1) von 20 Jahren aufweisen.

Ein Richter sagte mal bei einer Verhandlung wegen Kosten des Umgangsrechts zu mir: Ah, Sozialrechtsexperte unter der Führung von Harald Thome, Verfasser des Rechtsprechungstickers – das merkt man, was man nicht merkt, dass sie kein Jura Studium haben, denn ihr Wissen ist all umfassend! Er selbst lese des öfteren meine Kommentierungen zum Sozialrecht! Setzen wir uns zur Wehr, denn unserem Wissen sind Behörden nicht immer gewachsen!