Unfallkasse muss Rente trotz fehlender Befunde zahlen – Hohe Nachzahlung

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Es war ein Spätsommertag, als die Krankenschwester Sybille Hobel – ihr Name wurde von der Redaktion geändert – kurz vor Schichtende im Stationsflur ihrer Klinik ausrutschte. Eine feuchte Stelle auf dem Boden genügte, um sie heftig stürzen zu lassen.

Der linke Oberschenkel prallte auf, das Knie verdrehte sich, der rechte Arm fing den Aufprall nur unzureichend ab. Schon am selben Tag suchte Hobel den Durchgangsarzt auf, der für Arbeitsunfälle im deutschen System der gesetzlichen Unfallversicherung erste Anlaufstelle ist.

Dokumentiert wurden eine herausgesprungene Kniescheibe links und ein Ellenbogenbruch rechts – nicht jedoch ein großflächiges Hämatom am rechten Oberschenkel. Genau diese Auslassung sollte später zum Dreh- und Angelpunkt eines zweijährigen Rechtsstreits werden.

Anerkannter Arbeitsunfall, unvollständiger Befund

Die Unfallkasse Rheinland-Pfalz erkannte den Vorfall als Arbeitsunfall an und übernahm die Kosten für die Behandlung von Knie und Arm. Nach sechs Wochen konservativer Therapie blieb Hobel allerdings stark eingeschränkt.

Das linke Knie schmerzte bei jedem Schritt, und Belastungen des rechten Beins waren kaum möglich, weil der Oberschenkel pochte und anschwoll.

Bei Reha-Terminen und Folgeuntersuchungen sprach sie das gleichbleibend an. Doch weil im ursprünglichen Durchgangsarztbericht keinerlei Hinweis auf die Oberschenkelverletzung stand, blieb dieser Bereich ärztlich und versicherungstechnisch außen vor.

Die Folge war eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von lediglich zehn Prozent – zu wenig für eine Rente.

Ein zweiter Sturz und die Weigerung der Unfallkasse

Im November kam es in Hobels Küche erneut zu einem Unfall. Beim Versuch, den linken Fuß über eine Fliesenfuge zu heben, blieb sie hängen, verlor das Gleichgewicht und stürzte.

Die Ursache lag für sie klar auf der Hand: Ihr linkes Bein ließ sich seit dem ersten Unfall nicht mehr richtig anheben.

Dennoch verweigerte die Unfallkasse eine erneute Anerkennung. Sie sah keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen und damit keinen Versicherungsfall.

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Unterstützung durch den VdK und der Weg zum Gegengutachten

An diesem Punkt wandte sich Sybille Hobel an den Sozialverband VdK Rheinland-Pfalz. Rechtsberaterin Stefanie Funk legte Widerspruch ein, verwies auf die fortbestehenden Schmerzen im rechten Oberschenkel und forderte eine umfassende Begutachtung.

Obwohl der VdK ärztliche Befunde beibrachte, blieb die Unfallkasse zunächst bei ihrer Haltung. Erst als sie einen eigenen Gutachter bestellte, kam Bewegung in die Sache.

Der Sachverständige untersuchte alle bislang nicht berücksichtigten Beschwerden, bestätigte einen Abriss der Hamstring-Muskulatur am rechten Oberschenkel und klassifizierte dies als Folge des ursprünglichen Sturzes.

Aufwertung der MdE und satte Nachzahlung

Mit dem neu festgestellten Schaden stieg die MdE von zehn auf zwanzig Prozent. Damit war der Schwellenwert für eine monatliche Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erreicht.

Die Unfallkasse musste Hobel rückwirkend knapp 19 000 Euro nachzahlen und gewährt ihr seither eine lebenslange Rente von 612 Euro im Monat.

Für die heute in Teilzeit tätige Pflegekraft bedeutet das nicht nur eine finanzielle Entlastung. Ihr wurde nun auch eine gezielte Behandlung des rechten Beins ermöglicht, die bislang verwehrt geblieben war.

Die Lehren aus dem Fall: Dokumentationspflicht und Eigeninitiative

„Für die monatliche Rentenzahlung bin ich dankbar. Sie erleichtert vieles“, sagt Sybille Hobel heute. „Entscheidend war für mich aber, dass endlich das rechte Bein versorgt wird.“

Rechtsberaterin Stefanie Funk betont, wie essenziell vollständige Dokumentation unmittelbar nach einem Arbeitsunfall ist. Wer verletzt wird, sollte unverzüglich einen Durchgangsarzt aufsuchen, sämtliche Symptome schildern und darauf drängen, dass jede Auffälligkeit schriftlich festgehalten wird.

Im Zweifel empfiehlt sich, zusätzlich eigene Notizen zu machen oder Fotos anzufertigen. Denn wie Hobels Fall zeigt, kann eine einzige vergessene Zeile über Jahre hinweg Behandlungs- und Rentenansprüche blockieren.

System der gesetzlichen Unfallversicherung

Deutschland verfügt mit den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen über ein weltweit einzigartiges System der gesetzlichen Unfallversicherung. Es trägt Heilbehandlungs-, Rehabilitations- und Rentenkosten für Unfälle, die sich während der Arbeit oder auf dem Weg dorthin ereignen. Voraussetzung ist jedoch, dass der Zusammenhang zwischen Tätigkeit und Verletzung eindeutig nachgewiesen wird.

Die Durchgangsärzte fungieren dabei als Gatekeeper: Ihre Erstdiagnose bestimmt häufig den Verlauf des gesamten Verfahrens. Korrekturen sind zwar möglich, aber oft langwierig, weil jede Nachbesserung neue Gutachten und juristische Schritte erfordert.

Rechtliche Handlungsmöglichkeiten bei Ablehnung

Wird ein Antrag abgelehnt, ist der Widerspruch das erste Mittel der Wahl. Innerhalb eines Monats kann der Bescheid schriftlich angefochten werden. Hilfreich sind dabei fachkundige Unterstützung durch Sozialverbände wie den VdK oder auf Sozialrecht spezialisierte Anwältinnen und Anwälte.

Häufig genügt bereits der Hinweis auf fehlende Befunde, um die Versicherung zur erneuten Prüfung zu bewegen. Kommt es dennoch zu keiner Einigung, bleibt der Klageweg vor den Sozialgerichten offen.

Fazit: Prävention, Sorgfalt und beharrliches Vorgehen

Sybille Hobels Geschichte zeigt, wie eng medizinische Dokumentation, versicherungsrechtliche Anerkennung und finanzielle Absicherung miteinander verknüpft sind. Kleine Versäumnisse im ersten Arztbericht können weitreichende Folgen nach sich ziehen.

Zugleich zeigt der Fall, dass sich Hartnäckigkeit lohnt: Dank der Unterstützung des VdK wurde nicht nur eine rentenrelevante Verletzung anerkannt, sondern auch die medizinische Versorgung sichergestellt. Für Beschäftigte bedeutet dies eine klare Botschaft: Nach einem Arbeitsunfall kommt es auf minutiöse Sorgfalt – und, wenn nötig, juristische Entschlossenheit – an.