Wenn Bezieher von Bürgergeld einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II (Sonderbedarf) beim Jobcenter für die Vergangenheit geltend machen, wird dieser fast immer abgelehnt mit der Begründung:
Ein Mehrbedarf setzt eine tatsächliche Beschaffung von Dienstleistungen oder Waren zur Deckung des Mehrbedarfs voraus.
Wegen fehlender Geldmittel könnten ja zum Bsp. die Medikamente gar nicht vom Leistungsbezieher gekauft werden und somit sei ein Härtefallmehrbedarf nicht gegeben, so die Auffassung vieler Jobcenter.
Für die Anerkennung eines besonderen Bedarfs sei erforderlich, dass der Bedarf im streitigen Bewilligungszeitraum auch tatsächlich bestanden hat, der Leistungsberechtigte also einer konkreten Forderung ausgesetzt gewesen ist ( BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R zur Entstehung des Mehrbedarfs mit der Rechnungsstellung durch den behandelnden Arzt).
Die Entstehung eines Mehrbedarfs bei Medikamenten wird teilweise an die Vorlage entsprechender Apothekenquittungen angeknüpft.
In der Literatur wird sogar teilweise vertreten, dass es sich anders als bei Regelsatzleistungen um zweckgebundene Leistungen handelt, die durch das Jobcenter zurückgefordert werden können ( § 47 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB X), wenn der Leistungsempfänger eine zweckentsprechende Verwendung des Mehrbedarfes nicht nachweist.
Muss man dieser Auffassung folgen?
Nein sagen wir von gegen- hartz.de, denn diese Auffassung ist rechtswidrig und somit werden den Hilfebedürftigen Leistungen vor enthalten, auf welche aber ein Rechtsanspruch besteht, bei Vorliegen der Voraussetzungen.
Denn bei einer Entscheidung über einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum kann nichts anderes gelten, wenn die mit der Antragstellung begehrte Leistung rechtswidrigerweise abgelehnt wurde vom Jobcenter.
Der Leistungsberechtigte innerhalb der gesetzlichen Fristen einen Rechtsbehelf eingelegt und sich im Rechtsbehelfsverfahren der Mehrbedarf bestätigt hat, er mithin bis dahin bereits wegen fehlender Geldmittel nicht gedeckt werden konnte.
Zwar kann bei einer durch das Gericht nach Ablauf des streitgegenständlichen Bewilligungsabschnitts und damit dem Jobcenter nachträglich verpflichtenden Gewährung des Mehrbedarfs dessen Zweck nicht mehr erreicht werden, da der Mehrbedarf für diesen Zeitraum nicht mehr nachholbar und damit auch die Einflussnahme auf die gesundheitliche Beeinträchtigung nicht mehr möglich ist.
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Nach BSG Rechtsprechung gilt jedoch – Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 Grundgesetz)
In diesen Fällen ist aber dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 Grundgesetz) Vorrang zu geben, da andernfalls das Jobcenter durch unberechtigtes Bestreiten des Anspruchs den Beginn der Leistung oder gar den ab Antragstellung entstandenen Anspruch vereiteln könnte und so die Einklagbarkeit abgelehnter Leistungen nicht effektiv wäre ( Rechtsprechung BSG ).
Fazit
Bürgergeldempfänger können einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II auch rückwirkend geltend machen trotz fehlender Bedarfsdeckung im Bewilligungszeitraum ( Rechtsprechung BSG ).
Praxistipp:
Das Bundessozialgericht hat diese Auslegung ausdrücklich auch mit Blick auf die in § 21 Abs. 2 bis Abs. 4 SGB II und § 21 Abs. 6 und Abs. 7 SGB II geregelten Mehrbedarfe begründet.
Was heißt das jetzt für Bürgergeldbezieher?
Bezieher von Bürgergeld muss zum Bsp. ein Sonderbedarf für Medikamente vom Jobcenter auch dann gewährt werden, wenn ihr Bedarf im Bewilligungszeitraum aufgrund fehlender Geldmittel gar nicht gedeckt war oder nur teilweise.
Ansonsten hätten die Jobcenter es in der Hand jeglichen Mehrbedarf wegen fehlender Bedarfsbedeckung abzulehnen, doch dem hat das BSG einen Riegel vor geschoben.
In so einem Fall muss das Jobcenter den Härtefallmehrbedarf nach bezahlen. In der Regel wird der Hilfebedürftige allerdings um ein Klageverfahren bei Gericht nicht herum kommen.
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Detlef Brock ist Redakteur bei Gegen-Hartz.de und beim Sozialverein Tacheles e.V. Bekannt ist er aus dem Sozialticker und später aus dem Forum von Tacheles unter dem Namen “Willi2”. Er erstellt einmal wöchentlich den Rechtsticker bei Tacheles. Sein Wissen zum Sozialrecht hat er sich autodidaktisch seit nunmehr 17 Jahren angeeignet.