Bürgergeld: Grundsatzurteil – Jobcenter muss Azubi 3 600 € nachzahlen

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Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat entschieden: Jobcenter müssen die monatlichen Raten einer berufsbegleitenden Ausbildung (450 €) als notwendige Ausgaben vom Einkommen abziehen. Betroffene erhalten dadurch höhere Leistungen nach dem SGB II – in diesem Fall rückwirkend für acht Monate.

Warum das Urteil wichtig ist

Wer parallel zu einer Weiterbildung arbeitet, soll nicht dafür bestraft werden, dass er sein Gehalt sofort wieder in Pflichtgebühren stecken muss. Das LSG stellt klar: Ohne die Ausbildung gäbe es den Job im Krankenhaus gar nicht – deshalb gehören die Gebühren in die Rubrik „notwendige Kosten der Einkommenserzielung“. Für Leistungsbezieher bedeutet das mehr finanzieller Spielraum und ein deutliches Signal an alle Jobcenter.

Ausgangslage: Psychologe im Spagat zwischen Klinikjob und Weiterbildung

Der Kläger, Jahrgang 1981, hat nach seinem Master in Psychologie eine dreijährige Ausbildung zum Psychotherapeuten begonnen.

  • Praktische Tätigkeit: 26 Stunden wöchentlich im LVR-Klinikum Essen
  • Vergütung: 1 000 € brutto, 799 € netto
  • Ausbildungskosten: 16 200 € insgesamt, zahlbar in 36 Raten zu 450 €

Der Mann lebte allein in Köln, musste Miete, Ticket, Haftpflicht und Berufshaftpflicht­versicherung bezahlen – klassische Fixkosten eines Single-Haushalts.

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Bisherige Praxis der Jobcenter

Das Jobcenter Köln erkannte lediglich Fahrt und Versicherungs­kosten an. Die 450 € monatliche Ausbildungsrate blieb unberücksichtigt. Begründung: Weiterbildung sei Privatsache; Förderentscheidungen liefen über das Eingliederungs­budget nach § 16 SGB II.

Folge: Der Leistungsanspruch schrumpfte, obwohl das Einkommen de facto um 450 € geringer war. Das Sozialgericht Köln bestätigte diese Linie zunächst.

LSG kippt erstinstanzliches Urteil

Die zweite Instanz schaute genauer hin:

1. Kausalität gegeben
Die Tätigkeit in der Klinik ist integraler Teil der Ausbildung. Ohne Zahlung der Raten drohte Vertragskündigung – damit auch Jobverlust.
2. Weiterbildung ≠ Erstausbildung
Das Gericht stufte die Maßnahme als berufliche Weiterbildung nach § 77 SGB III ein. Damit greift der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II nicht.
3. Systemgedanke unterstützt Entscheidung
Das SGB II will Beschäftigung fördern. Wird Beschäftigung nur möglich, wenn Weiterbildungskosten gedeckt sind, müssen diese als „notwendige Ausgaben“ (§ 11b Abs. 1 Nr. 5 SGB II) gelten.

Das LSG verurteilte das Jobcenter daher, monatlich 450 € zusätzlich zu zahlen – insgesamt 3 600 €. Gegen das Urteil ließ das Gericht Revision beim Bundessozialgericht (BSG) zu.

Konsequenzen für Betroffene

Höheres Bürgergeld-Budget: Wer für eine anerkannte Weiterbildung zahlen muss, kann die Gebühren unter Umständen voll absetzen.
Besserer Zugang zu Fachberufen: Qualifizierungen, die über ein Angestellten­verhältnis ablaufen (Pflege, Therapie, Handwerk), werden finanziell erleichtert.
Neue Argumentations­basis: Leistungsbezieher können sich nun auf das L 2 AS 804/21 berufen, wenn das Jobcenter Weiterbildungskosten ignoriert.

So setzen Sie den Anspruch durch

Legen Sie zunächst den Ausbildungsvertrag vor, um zu zeigen, dass Ihre Beschäftigung und die begleitende Weiterbildung untrennbar miteinander verknüpft sind. Fügen Sie anschließend lückenlose Zahlungsnachweise bei – etwa Kontoauszüge oder eine Bestätigung des Dauerauftrags – damit das Jobcenter die monatliche Belastung eindeutig nachvollziehen kann.

In Ihrem Schreiben sollten Sie ausdrücklich § 11b Abs. 1 Nr. 5 SGB II anführen und klarmachen, dass die Raten als „notwendige Ausgaben“ vom Einkommen abzusetzen sind. Reagiert die Behörde ablehnend, legen Sie umgehend Widerspruch ein und verweisen dabei auf das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. November 2022 (Az. L 2 AS 804/21), das die Absetzbarkeit solcher Weiterbildungskosten bestätigt.

Einordnung durch Fachanwälte

Sozialrechtler sehen in der Entscheidung einen „Paradigmenwechsel“. Bisher verneinten viele Gerichte die Absetzbarkeit, weil sie Weiterbildung als persönliches Interesse einstuften. Jetzt zählt, ob der Arbeitgeber die Maßnahme zwingend verlangt oder wirtschaftlich erzwingt. Genau diese Verknüpfung hat das LSG bejaht.

Blick nach vorn: Was das BSG entscheiden könnte

Das Bundessozialgericht muss prüfen, ob die LSG-Logik bundesweit Schule macht. Bestätigt das BSG die Entscheidung, entsteht endlich Rechtssicherheit für zig Tausende in medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Weiterbildungen. Kippt es das Urteil, bleibt nur der Gesetzgeber – der Druck auf eine Klarstellung im SGB II würde steigen.