Sanktionen für Bürgergeld-Bezieher wegen Angst

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Der Hilfeverein “Sanktionsfrei e.V.” berichtet von  J., der eine 10%-Sanktion wegen eines versäumten Termins beim Jobcenter erhalten hat. J. spricht von großer Überwindung, die er aufbringen muss, um sich auf Gespräche im Amt einzulassen, und von der Angst vor herablassender Behandlung sowie einer schnellen Vermittlung in schlechtbezahlte Zeitarbeitsfirmen.

Dieser Fall zeigt zugleich ein Muster, das laut verschiedener Erfahrungsberichte und Studien nicht selten auftritt.

Warum erhalten Bürgergeldbeziehende Sanktionen?

Bürgergeld (ehemals Hartz IV oder ALG II) ist an bestimmte Auflagen gebunden, die von der aktiven Jobsuche bis hin zur Teilnahme an eingliederungsfördernden Maßnahmen reichen.

Wenn Bürgergeld-Bezieher ohne “triftigen Grund” Termine nicht wahrnehmen, riskiert eine Kürzung des Regelsatzes.

Die dahinterliegende Idee ist, die Mitwirkung zu erzwingen, damit Menschen möglichst rasch den Weg zurück in Arbeit finden. Das Gesetz geht davon aus, dass ein gewisser Druck die Motivation erhöht, an Gesprächen, Qualifikationsangeboten und Bewerbungsverfahren teilzunehmen.

Kritikerinnen und Kritiker wie Helena Steinhaus, Gründerin des Vereins Sanktionsfrei wenden jedoch zurecht ein, dass dieser Ansatz viel zu wenig berücksichtigt, aus welchen persönlichen Gründen ein Termin platzen kann.

Krankheit, psychische Probleme, familiäre Verpflichtungen und die Furcht vor herablassendem Umgang in der Behörde sind in der Praxis häufige Gründe, weshalb Leistungsbeziehende den Kontakt zum Jobcenter meiden oder scheuen.

Angst vorm Jobcenter

J. berichtet, es koste ihn “eine enorme Kraft, überhaupt ein Gespräch unter vier Augen mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter des Jobcenters zu führen”.

Dieses Gefühl ist kein Einzelfall und resultiert oft aus einer Kombination mehrerer Faktoren. Einige Menschen wurden bereits mehrfach in prekäre Beschäftigungen oder schlechtbezahlte Zeitarbeit vermittelt und fürchten, dass ihnen erneut keine echte Perspektive, sondern nur eine schnelle Vermittlung angeboten wird.

Wenn dazu noch Erfahrungen von abwertender Behandlung kommen, wächst das Misstrauen gegenüber dem System.

Hinzu treten bei vielen Betroffenen Krankheiten oder psychische Belastungen, die für Außenstehende nicht sofort erkennbar sind. Wer an Depressionen, Ängsten oder chronischen Schmerzen leidet, empfindet behördliche Termine schnell als zusätzlichen Stressfaktor.

Wenn dann noch finanzielle Engpässe drücken, entstehen Situationen, in denen eine rechtzeitige Wahrnehmung von Terminen kaum zu bewältigen ist.

Diese Ängste sind auch darin begründet, dass manche Menschen sich unter Druck gesetzt fühlen, Tätigkeiten auszuüben, die sie nicht wollen oder gesundheitlich nicht leisten können.

Die Furcht vor einem weiteren Absturz oder einer unpassenden Arbeitsstelle kann dann so groß werden, dass jede Kommunikation vermieden wird.

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Welche Folgen haben Sanktionen für die Betroffenen?

Sanktionen sollen laut Gesetz einen Anreiz schaffen, die vorgegebenen Regeln einzuhalten und schneller in Arbeit zu kommen.

Die Realität in der Praxis zeigt jedoch, dass Kürzungen bei vielen Betroffenen existenzielle Ängste vergrößern und den Handlungsspielraum weiter einschränken.

“Besonders für Menschen, die ohnehin nur über sehr wenig Geld verfügen, bedeutet schon eine Kürzung um 10 Prozent, dass sie sich Alltagsausgaben wie Fahrkarten, Medikamente oder wichtige Telefonate nicht mehr leisten können”, sagt auch der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt von “Gegen-Hartz”.

Dies führe häufig zu einer Spirale aus Angst, Resignation und Rückzug, so Anhalt. Wer ohnehin Schwierigkeiten hat, psychisch stabil zu bleiben, wird durch finanzielle Engpässe zusätzlich belastet.

Auch das Verhältnis zum Jobcenter verschlechtert sich, wenn Betroffene das Gefühl haben, dass nicht auf ihre individuellen Probleme eingegangen wird.

Dieses Misstrauen kann langfristig dazu führen, dass Termine noch seltener wahrgenommen werden.

Studien weisen zudem darauf hin, dass Sanktionen zwar mitunter kurzfristig zu einer erhöhten Aufnahme von (meist schlecht bezahlter) Arbeit führen, langfristig jedoch häufig zur Vertiefung von Armut und zu einer Verschlechterung der Erwerbsbiografie beitragen.

Für viele führt der Weg über prekäre Beschäftigungen wieder zurück in die Arbeitslosigkeit, was dem Ziel einer nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt widerspricht.

Wie könnten Alternativen aussehen, die ohne Druck auskommen?

Anstelle von Strafmaßnahmen werden in gesellschaftspolitischen Debatten immer wieder Modelle vorgeschlagen, die mehr Wert auf Unterstützung, Vertrauen und individuelle Förderung legen. Dabei spielt der Aufbau eines wertschätzenden Kontakts eine zentrale Rolle.

In einer solchen Beratung müssten die Gründe für das Fernbleiben bei Terminen zunächst ohne Vorurteile erfragt werden. Wo psychische und gesundheitliche Probleme zu Tage treten, wären verbindliche Hilfsangebote, therapeutische Unterstützung und eine engmaschige Betreuung oft hilfreicher als Kürzungen.

Der Fokus läge darauf, langfristig tragfähige und den Fähigkeiten entsprechende Wege in den Arbeitsmarkt zu finden. Auch eine Stärkung des sozialen Arbeitsmarkts und eine gezielte Förderung existenzsichernder Beschäftigung werden immer wieder diskutiert.

Eine vertrauensvolle Atmosphäre kann dazu führen, dass Menschen ihre Sorgen früher ansprechen und gemeinsam mit Fachkräften Lösungen erarbeiten, zum Beispiel in Form von Qualifizierungen oder Umschulungen, die individuell passen und nicht nur kurzfristig Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließen sollen.

Sanktionen geht uns alle an

Sanktionen sind nicht nur ein individuelles Problem für die jeweils betroffenen Bürgergeldbeziehenden, sondern betreffen mittelbar auch die Gesellschaft als Ganzes. Wer unter existenziellem Druck steht, hat weniger Ressourcen, sich in das Gemeinwesen einzubringen. Dauerhafte Armut und Perspektivlosigkeit schwächen den sozialen Zusammenhalt und können das Klima der gegenseitigen Unterstützung beeinträchtigen.

Wenn Leistungsempfängerinnen und -empfänger als „unwillig“ oder „faul“ abgestempelt werden, entsteht zudem ein verfestigtes Stigma, das offene und respektvolle Begegnungen erschwert.

Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht kann ein System, das viele Menschen in kurzlebige, prekäre Arbeitsverhältnisse drängt, langfristig hohe Kosten verursachen.

Wer sich ständig von einer Zeitarbeitsstelle zur nächsten hangelt, ohne Aussicht auf sicheren Verdienst oder beruflichen Aufstieg, wird eher erneut in Arbeitslosigkeit fallen.

Ein Ansatz, der auf langfristige Förderung, Qualifizierung und psychische Stabilisierung setzt, hätte womöglich bessere Chancen, eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen und so langfristig Kosten zu reduzieren.

Mehr Unterstützung statt Druck

Der geschilderte Fall von J. ist exemplarisch für die Probleme, die das bisherige Sanktionssystem mit sich bringen kann. Statt durch finanzielle Kürzungen für eine schnellere Wiedereingliederung zu sorgen, erzeugen Sanktionen häufig Ängste, verschärfen psychische und soziale Probleme und treiben Menschen in eine prekäre Lage.

Viel spricht dafür, dass eine Beratung und Begleitung auf Augenhöhe effektiver wäre, um Betroffene langfristig in passende Arbeitsverhältnisse zu integrieren.

Wer sich nicht vor Strafen fürchten muss, sondern in einem vertrauensvollen Rahmen über Ängste, Krankheiten und Lebensumstände sprechen kann, wird eher bereit sein, Verantwortung für den eigenen Lebensweg zu übernehmen.

“Eine Gesellschaft, die auf Förderung statt Bestrafung setzt, legt den Grundstein für mehr Zusammenhalt, weniger Armut und langfristig stabilere Erwerbsbiografien”, sagt der Sozialrechtsexperte.

“Gerade für Menschen, die bereits mit schwierigen Lebenslagen zu kämpfen haben, könnte dieser Wandel im Umgang mit Leistungsbeziehenden den Unterschied zwischen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit ausmachen”, so Anhalt weiter.