Bürgergeld: Tausende Jobcenter Bescheide möglicherweise falsch – Hammerurteil mit Signalwirkung

Tausende Bescheide könnten betroffen sein: Dürfen Jobcenter die Aufrechnung einer Erstattungsforderung sofort im selben Bescheid wie die Erstattungsfestsetzung erklären – oder braucht es dafür erst eine bestandskräftige Erstattungsforderung? Diese bislang ungeklärte Kernfrage liegt jetzt dem Bundessozialgericht (BSG) in drei Verfahren zur Entscheidung vor.

Worum es konkret geht

Jobcenter verlangen zu viel gezahlte Leistungen zurück (Erstattungsbescheid) und ziehen den Betrag anschließend von laufenden Leistungen ab (Aufrechnung). Streitpunkt: Darf die Aufrechnung zeitgleich mit der Erstattungsentscheidung erfolgen – oder erst nach Eintritt der Bestandskraft des Erstattungsbescheids?

Auffassung LSG Niedersachsen-Bremen: Aufrechnung im selben Bescheid möglich

Der 7. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen hält eine gemeinsame Verfügung für zulässig. Begründung in Kürze:

Für die Aufrechnungslage nach § 387 BGB genügt, dass die Gegenforderung entstanden und fällig ist.
Bei Erstattungen tritt Fälligkeit mit Bekanntgabe und Wirksamkeit des Erstattungsbescheids ein (§§ 37, 39 SGB X).
Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Klage (§ 86a SGG) greift erst ab deren Eingang – sie suspendiert also nicht rückwirkend die bereits wirksam erklärte Aufrechnung.

Aktuelle Entscheidung: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 04.04.2025 – L 7 AS 216/24 (Revision anhängig beim BSG: B 4 AS 12/25 R).
Bereits zuvor: L 7 AS 458/22 (Urt. v. 12.03.2024, Rev. zugelassen) sowie L 9 AS 625/20 (Urt. v. 03.03.2022).

Fazit dieser Linie: Die Erklärung der Aufrechnung kann grundsätzlich im selben Bescheid wie die Erstattungsfestsetzung erfolgen.

Gegenauffassung Thüringer LSG: Aufrechnung erst nach Bestandskraft – oder mit sofortiger Vollziehung

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Das Thüringer LSG sieht es anders (Urt. v. 27.03.2024 – L 9 AS 906/22, Revision anhängig: B 4 AS 18/24 R):

Ein Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid hat aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 SGG).
Mangels § 39 SGB II-Ausnahme kann nur aufgerechnet werden, wenn der Erstattungsbescheid bestandskräftig ist oder die Behörde die sofortige Vollziehung anordnet (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG).
Wird zeitgleich über Erstattung und Aufrechnung entschieden, fehlt es bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist an der Bestandskraft des Erstattungsbescheids.

Einordnung (Anmerkung von Sozialrechtsexperte Detlef Brock)

Das BSG muss nun klären, ob die zeitgleiche Aufrechnung zulässig ist oder ob Bestandskraft bzw. sofortige Vollziehung erforderlich sind. Die Uneinheitlichkeit reicht sogar innerhalb der niedersächsischen Gerichtsbarkeit über verschiedene Senate hinweg – und spiegelt die kontroverse Literaturlage wider. Die Entscheidung hat große praktische Relevanz für Bürgergeld-Beziehende und Jobcenter.

Was Betroffene jetzt tun sollten

Sofort Widerspruch einlegen – gegen den Erstattungsbescheid und gegen den Aufrechnungsbescheid.
Prüfen lassen, ob eine Ruhendstellung des Verfahrens sinnvoll ist, bis das BSG entschieden hat.
Fachanwalt für Sozialrecht einschalten: Die Materie ist komplex, die Rechtslage hoch umstritten.

Beim BSG anhängige Verfahren (Überblick)

1. LSG Celle, Urt. v. 04.04.2025 – L 7 AS 649/22 (n. veröff.) – Revision: B 7 AS 13/25 R
2. LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 04.04.2025 – L 7 AS 216/24 – Revision: B 4 AS 12/25 R
3. Thüringer LSG, Urt. v. 27.03.2024 – L 9 AS 906/22 (n. veröff.) – Revision: B 4 AS 18/24 R

Ausblick

Der 4. Senat des BSG wird voraussichtlich am 25.09.2025 verhandeln. Bis dahin gilt: Bescheide genau prüfen, Rechtsmittel fristwahrend einlegen und – wo zweckmäßig – ein Ruhen des Verfahrens anregen.

Kurzfazit

Pro Aufrechnung im selben Bescheid: LSG Niedersachsen-Bremen – Fälligkeit mit Bekanntgabe; aufschiebende Wirkung wirkt erst ab Widerspruch/Klage.
Contra: Thüringer LSG – Aufrechnung erst nach Bestandskraft oder bei sofortiger Vollziehung.
BSG entscheidet in drei Verfahren – erhebliche Folgen für Praxis und viele bestehende Bescheide.