Bürgergeld: Rollen verschwimmen – Jobcenter Beklagte ist gleichzeitig Sachverständige

Eine Leserzuschrift von Anja K. aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis zeigt, wie Jobcenter einfach Dinge behaupten, die nicht der Realität entsprechen und dadurch Eskalationen verursachen.

K. berichtet, dass gegen sie sogar ein Strafbefehl ergangen ist, obwohl sie zuvor selbst Strafanzeige gegen mehrere Beschäftigte des örtlichen Jobcenters gestellt hatte.

Brisant ist insbesondere ihr Vorwurf, eine der angezeigten Mitarbeiterinnen trete im gegen sie gerichteten Verfahren zugleich als „Geschädigte“ und als „Sachverständige“ auf. Das wirft Fragen nach Neutralität und Trennung von Rollen auf, die nicht nur juristisch bedeutsam sind.

Der lange Kampf um existenzsichernde Leistungen

Nach K.´s Darstellung begann der Konflikt im Jahr 2020. Sie habe seitdem um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Bürgergeld) kämpfen müssen – trotz mehrerer Beschlüsse des Landessozialgerichts, die ihr Ansprüche zusprachen und das Jobcenter verpflichteten, die Leistungen ordnungsgemäß zu gewähren.

Die Konsequenzen der wiederholten Leistungsversagungen beschreibt die Betroffene als existenzbedrohend: Ihr Geschäftskonto sei infolge ausbleibender Zahlungen gekündigt worden, ihre selbstständige Tätigkeit habe sie einstellen müssen, Versicherungen seien entzogen worden.

In den Behördenakten fänden sich nachweislich falsche Tatsachenbehauptungen, die unmittelbar zu Ablehnungen geführt hätten.

Der Fall berührt einen empfindlichen Bereich des Sozialrechts. Leistungen der Grundsicherung sind auf Sicherung des Existenzminimums ausgerichtet; Fehlentscheidungen – ob durch Missverständnisse, Ermessensfehler oder Fehler in der Sachverhaltsaufklärung – haben schnell gravierende Folgen. Wenn Gerichte Leistungen zusprechen, ist es Aufgabe der Verwaltung, diese umgehend umzusetzen.

Kommt es hier zu Verzögerungen oder erneuten Ablehnungen auf derselben Tatsachengrundlage, ist nachvollziehbar, dass Betroffene das als Willkür erleben.

Ein Konto für zwei – Notlösung und Datenschutz

Besonders heikel ist die Kontofrage. Nach der Schilderung war nach der Kündigung ihres eigenen Kontos gezwungen, das Konto ihrer Mutter für den Zahlungsverkehr mitzunutzen. Die Mutter sei Rentnerin mit weniger als 1.000 Euro monatlich und keine Angehörige der Bedarfsgemeinschaft.

Dennoch fordere das Jobcenter nun vollständige Offenlegung ihrer Kontoauszüge und deute die gemeinsame Nutzung als Verschleierung.

Hier prallen zwei Anliegen aufeinander: die Pflicht der Leistungsberechtigten zur Mitwirkung und zur Offenlegung relevanter wirtschaftlicher Verhältnisse einerseits, der Schutz Dritter und datenschutzrechtliche Schranken andererseits.

Nach allgemeinem sozialrechtlichem Rahmen sind Mitwirkungspflichten weitreichend, doch sie gelten nur gegenüber der leistungsberechtigten Person.

Greifen Prüfbitten in die Sphäre unbeteiligter Dritter ein, bedarf es einer besonderen Rechtfertigung – und einer Einzelfallabwägung, ob und in welchem Umfang Daten Dritter für die Leistungsprüfung tatsächlich erforderlich sind.

Die Nutzung eines fremden Kontos als Notlösung kann dabei erklärungsbedürftig sein, macht Dritte aber nicht automatisch zu Mitwirkungspflichtigen.

Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, “ob und wie Zahlungsein- und -ausgänge der leistungsberechtigten Person nachvollziehbar sind, ohne über das notwendige Maß hinaus in die Privatsphäre Dritter einzudringen”, sagt Dr. Utz Anhalt, Sozialrechtsexperte unserer Redaktion.

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Der Streit um Kontoauszüge: Was in der Akte steht – und was behauptet wird

Wichtigster Punkt der Auseinandersetzung ist die Frage, ob vollständige, ungeschwärzte Kontoauszüge rechtzeitig vorgelegen haben. K. betont, diese Unterlagen befänden sich seit Langem vollständig in der elektronischen Akte des Jobcenters – und zwar schon vor Erlass eines ablehnenden Bescheids.

Schwärzungen, die sie zum Schutz der Daten ihrer Mutter vorgenommen habe, seien nach ihrer Darstellung sogar rückgängig gemacht worden.

Gleichwohl sei ihr erneut vorgehalten worden, die Auszüge seien unvollständig oder nur teilweise eingereicht. Abweichungen zwischen ihren eigenen Angaben und den Buchungen gebe es, so K., nicht; im Eilverfahren habe das bereits zu einem positiven Beschluss geführt.

Sollte es zu einer Diskrepanz zwischen Aktenlage und Bescheidbegründung gekommen sein, stellt sich die Frage nach der Qualitätssicherung behördlicher Entscheidungen. Elektronische Aktenführung soll Entscheidungen nachvollziehbar machen und Fehler vermeiden helfen.

Wenn aber Unterlagen vorliegen, die im Bescheid nicht berücksichtigt werden, führt das nicht nur zu prozessualen Niederlagen, sondern unterminiert auch das Vertrauen in die Verwaltungspraxis. Umgekehrt gilt: Sollten tatsächlich Lücken oder Unklarheiten bestanden haben, müssten sie transparent benannt und unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nachgefordert werden.

Von der Anzeige zum Strafbefehl

Aus der Kontroverse um die Aktenlage erwuchs ein strafrechtlicher Nebenstrang. Nachdem K. die aus ihrer Sicht „eindeutige, belegbare Falschbehauptung“ angezeigt hatte, erhielt sie selbst einen Strafbefehl. Begründet werde dieser, so ihre Darstellung, mit ihrer angeblichen Wut über verweigerte Leistungen und einer angeblich unzureichenden Mitwirkung. Beides weist sie zurück und verweist auf eine durchgehende Kooperation.

Doppelfunktion einer Mitarbeiterin: Unabhängigkeit als Prüfstein

Besonders problematisch ist die Rolle einer Jobcenter-Beschäftigten, die sie bereits angezeigt hatte. Diese trete in dem gegen K. geführten Strafverfahren zugleich als Geschädigte und als Sachverständige auf. In Strafverfahren sind Sachverständige grundsätzlich zur Unabhängigkeit verpflichtet.

Wer zugleich als potenziell Betroffene einer behaupteten Tat geführt wird, trägt definitionsgemäß eine eigene Interessenlage. Ob eine solche Doppelrolle rechtlich zulässig oder sachlich geboten ist, hängt vom genauen Verfahrensgegenstand ab – die Schwelle für berechtigte Befangenheitszweifel liegt in jedem Fall niedrig. Schon zur Wahrung des Anscheins der Neutralität bedarf es klarer Trennlinien; andernfalls droht der Eindruck, dass die Beurteilung des Sachverhalts nicht mehr von einer neutralen, externen Expertise getragen wird.

Der Fall führt exemplarisch vor Augen, wie konfliktanfällig die Schnittstellen zwischen Sozialverwaltung und Betroffenen sind. Mitwirkungspflichten sollen eine zügige, vollständige Sachverhaltsaufklärung sicherstellen.

Datenschutzrecht und das Prinzip der Datensparsamkeit setzen dem Grenzen. Bei Kontounterlagen hat sich in der Praxis eingebürgert, dass sensible, leistungsunerhebliche Informationen geschwärzt werden dürfen, solange Leistungsrelevantes prüfbar bleibt.

Wo genau die Grenze verläuft, ist einzelfallabhängig und häufig Gegenstand gerichtlicher Klärung. Verfahrensrechtlich ist es Aufgabe der Behörde, Anforderungen präzise zu benennen, Fristen angemessen zu setzen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Werden Gerichtsentscheidungen zugunsten der Betroffenen erlassen, sind diese bestands- und vollziehbar – faktische Vollzugsdefizite verschieben das Risiko unzulässig auf die schwächere Seite.

Der Stand des Verfahrens und die offenen Fragen

Für den 13. November 2025 ist nach Kaysers Angaben eine Hauptverhandlung anberaumt. Sie hat Akteneinsicht beantragt und um Beiordnung einer Pflichtverteidigung ersucht.

Unabhängig vom Ausgang des Strafverfahrens bleibt die Kernfrage bestehen, ob Aktenlage und Bescheidbegründungen des Jobcenters auseinanderfallen, wie mit den Kontoauszügen verfahren wurde und ob die datenschutzrechtlichen Belange der Mutter hinreichend berücksichtigt wurden.

Ebenso aufklärungsbedürftig ist die Doppelrolle der genannten Mitarbeiterin und die Frage, wie Unabhängigkeit und Distanz in einem Verfahren mit erheblicher persönlicher Betroffenheit gewährleistet werden.