Schwerbehinderung: Merkzeichen B bei GdB 50 – Gericht erweitert Anspruch – Urteil

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Eine schwerbehinderte Frau mit GdB 50 erstritt das Merkzeichen B – obwohl sie keinen Rollstuhl nutzt. Das LSG Baden-Württemberg stärkt mit seinem Urteil vom 23. Juni 2023 (Az.: L 8 SB 353/22) die Rechte von Betroffenen im öffentlichen Nahverkehr.

Wenn Einsteigen zur Hürde wird: Merkzeichen B auch ohne Rollstuhlpflicht

In einem richtungsweisenden Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg entschieden: Das Merkzeichen B steht auch Menschen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 zu, wenn sie regelmäßig auf Hilfe beim Ein- und Aussteigen in öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind – selbst wenn keine außergewöhnliche Gehbehinderung oder Rollstuhlpflicht besteht. Damit hebt das Gericht eine langjährige Verwaltungspraxis auf, bei der solche Anträge häufig abgelehnt wurden, sofern kein sogenannter „Katalogfall“ vorlag.

Geklagt hatte eine Frau mit chronischen Wirbelsäulen- und Hüftbeschwerden. Trotz erheblicher Mobilitätseinschränkungen und anerkannter Schwerbehinderung (GdB 50) verweigerte die Behörde ihr das Merkzeichen B. Die Klägerin konnte nachweislich öffentliche Verkehrsmittel nur unter erheblichem Aufwand und mit Hilfe einer weiteren Person nutzen. Das LSG gab ihr Recht: Entscheidend sei die tatsächliche Einschränkung bei der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, nicht das Vorliegen einer typischen Diagnose wie Querschnittslähmung oder Blindheit.

Der Leitsatz des Urteils bringt es auf den Punkt:

„Das Merkzeichen B kann auch bei GdB 50 ohne klassischen Katalogfall gewährt werden, wenn Ein/Aussteigen in den ÖPNV ohne Hilfe nicht möglich ist.“

Was bedeutet das Urteil für Betroffene im Alltag?

Das LSG Baden-Württemberg stärkt mit diesem Urteil die Position vieler Menschen, die nicht auf den Rollstuhl angewiesen sind, aber dennoch deutliche Einschränkungen in der Mobilität haben – etwa aufgrund orthopädischer Erkrankungen, chronischer Schmerzen oder degenerativer Veränderungen der Wirbelsäule. Wer nur mit fremder Hilfe den Bus besteigen kann oder beim Aussteigen auf Unterstützung angewiesen ist, kann nun auf ein stärkeres rechtliches Fundament bauen.

Konkret bedeutet das für Betroffene mehr Teilhabe – und spürbare finanzielle Entlastung. Denn mit dem Merkzeichen B im Schwerbehindertenausweis dürfen Begleitpersonen kostenfrei im öffentlichen Nahverkehr mitfahren. Das ist insbesondere für Alleinstehende oder Menschen mit geringem Einkommen eine wichtige Erleichterung. Zudem entfällt bei gleichzeitiger Zuerkennung des Merkzeichens G die Pflicht zum Erwerb einer sogenannten Wertmarke, die ansonsten für die kostenfreie Nutzung des ÖPNV notwendig wäre.

Gerade für Menschen mit Erkrankungen wie fortgeschrittener Arthrose, Versteifungen der Wirbelsäule oder funktionellen Beeinträchtigungen der Hüft- und Sprunggelenke ist die sichere Nutzung des ÖPNV oft nicht ohne Hilfe möglich. Das Urteil erkennt an, dass solche Einschränkungen auch ohne sichtbare Hilfsmittel wie Rollstuhl oder Gehhilfe schwerwiegende Folgen für die Mobilität und damit für die gesellschaftliche Teilhabe haben können.

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Voraussetzungen und Antragstellung: Was gilt beim Merkzeichen B?

Grundsätzlich wird das Merkzeichen B Personen zugesprochen, die regelmäßig auf eine Begleitperson bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen sind. Das betrifft hauptsächlich die Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder – bei bestimmten Erkrankungen – die Orientierung während der Fahrt oder an der Haltestelle.

Ein Rollstuhl oder eine außergewöhnliche Gehbehinderung sind nicht zwingend erforderlich, wie das Urteil zeigt. Ausschlaggebend ist die tatsächliche Mobilitätsbeeinträchtigung und die wiederkehrende Notwendigkeit fremder Hilfe. Auch psychische Erkrankungen oder neurologische Störungen können hier eine Rolle spielen, wenn sie sich auf Orientierung oder Sicherheit im Straßenverkehr auswirken.

Wichtig ist, dass bereits das Merkzeichen G festgestellt wurde – also eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt. Danach kann ein Antrag auf das Merkzeichen B gestellt werden. Ärztliche Atteste, Reha-Entlassungsberichte oder Stellungnahmen von Therapeuten, die den Unterstützungsbedarf belegen, sind dabei hilfreich.

Der Antrag selbst wird bei der zuständigen Versorgungsbehörde gestellt, meist dem Integrationsamt oder dem Landesamt für Versorgung. Die Bearbeitung kann mehrere Monate dauern. Bei Ablehnung sollten Betroffene den Bescheid genau prüfen und fristgerecht Widerspruch einlegen.

Was tun bei Ablehnung? So lässt sich das Merkzeichen doch noch durchsetzen

Wird ein Antrag auf das Merkzeichen B abgelehnt, lohnt es sich oft, Widerspruch einzulegen. Häufig stützen sich die Behörden auf veraltete Gutachten oder schätzen die tatsächliche Mobilitätssituation zu niedrig ein. Betroffene sollten innerhalb eines Monats nach Zugang des Bescheids Widerspruch einlegen und aktuelle medizinische Nachweise beifügen. Besonders sinnvoll kann es sein, eine Stellungnahme der behandelnden Ärztin oder des Arztes beizufügen, in der konkret geschildert wird, welche Hilfe beim Ein- und Aussteigen nötig ist – und wie regelmäßig diese benötigt wird.

Kommt es dennoch zu keiner Anerkennung, besteht die Möglichkeit einer Klage beim Sozialgericht. Für viele ist das eine abschreckende Vorstellung – zu Unrecht. Sozialgerichte arbeiten ohne Gerichtsgebühren, und mit der Unterstützung von Sozialverbänden, Behindertenbeauftragten oder Beratungsstellen ist der Weg durch die Instanzen machbar. Die Klägerin im besprochenen Fall wurde über Jahre hinweg begleitet – und hatte schließlich Erfolg.

Das Urteil im Kontext: Ein Fortschritt für Barrierefreiheit im Alltag

Das Urteil des LSG ist Teil eines schleichenden Wandels in der sozialrechtlichen Rechtsprechung: Weg von pauschalen Zuordnungen nach Diagnosegruppen, hin zu einer individuellen Bewertung der tatsächlichen Einschränkungen im Alltag. Es reiht sich ein in eine Reihe von Urteilen, in denen Gerichte anerkennen, dass der Zugang zum öffentlichen Nahverkehr für viele Menschen nicht barrierefrei ist – trotz gesetzlicher Vorgaben zur Inklusion.

Besonders hervorzuheben ist die Aussage des Gerichts, dass auch Personen außerhalb der typischen „Katalogfälle“ anspruchsberechtigt sein können. Gemeint sind damit beispielsweise nicht Rollstuhlnutzer oder Blinde, sondern Menschen mit einer „funktionellen Gesamtschau“ an Beeinträchtigungen, die das sichere Nutzen des ÖPNV ohne Hilfe erheblich erschweren.

Damit wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass der ÖPNV in Deutschland längst nicht überall barrierefrei ist. Stufen beim Einstieg, fehlende Rampen, unübersichtliche Haltestellen – all das kann selbst für mobilitätseingeschränkte Menschen ohne Rollstuhl ein ernsthaftes Hindernis sein. Die Gerichte betonen, dass der Rechtsanspruch nicht von der theoretischen Möglichkeit einer barrierefreien Nutzung abhängt, sondern von der realen Situation vor Ort.