Sanktionen bei Meldeversäumnissen nach §§ 31–32 SGB II sind keine Strafen, sondern gesetzliche Folgen von Obliegenheitsverletzungen. Gerade deshalb muss das Jobcenter Ermessen ausüben: Es darf nicht Einladung an Einladung reihen und nach jedem Nichterscheinen automatisch kürzen. Fehlt diese Abwägung, liegt ein Ermessensfehler vor – Sanktionen können fallen.
Ausgangsfall: 16 Einladungen in 15 Monaten – immer derselbe Zweck
Im entschiedenen Verfahren erhielt eine Leistungsberechtigte 16 Meldeaufforderungen binnen 15 Monaten, jeweils mit demselben Standardzweck („Bewerberangebot/berufliche Situation“). Sie erschien nie. Das Jobcenter setzte wiederholt Sanktionen fest. Das LSG Hamburg (L 4 AS 282/16) hob hervor: In einer solchen Serien-Konstellation reicht es nicht, einfach die nächste identische Einladung zu versenden und zu kürzen. Es fehlt die erkennbare Ermessensbetätigung.
Warum die Einladungs-Serie rechtsfehlerhaft war
Die Einladungen enthielten keinen individuellen Grund, der die Wiederholung sachlich tragen konnte, und es blieb unerklärt, weshalb ausgerechnet die nächste Standard-Vorsprache erfolgversprechend sein sollte.
Obwohl Zweifel an der Erwerbsfähigkeit bestanden, wurden Alternativen – etwa eine ärztliche oder psychologische Abklärung – nicht geprüft; statt einer erkennbaren Abwägung setzte sich ein Automatismus durch, bei dem die Einladungen faktisch nur als Durchgangsstation zur nächsten Sanktion dienten.
BSG-Leitlinie: Spätestens nach der dritten gleichen Einladung muss umgeschaltet werden
Das Bundessozialgericht (B 14 AS 19/14 R) hat für vergleichbare Serienfälle klargestellt:
- Eine rasche Abfolge gleichlautender Meldeaufforderungen ohne neue, tragfähige Gründe verletzt die Pflicht zur Ermessensausübung (Ermessensunterschreitung).
- Spätestens nach der dritten identischen, erneut versäumten Einladung muss das Jobcenter neu abwägen und seine Linie begründet anpassen.
- In die Abwägung gehört auch die gesetzliche Abstufung der Rechtsfolgen (§ 31a SGB II: 10 % bei Meldeversäumnis vs. 30 % bei Pflichtverletzung; Sachleistungen > 30 %).
- Zweck der Meldeaufforderung ist Fördern statt Strafen (§ 1 Abs. 2 SGB II). Das Instrument soll Eingliederung ermöglichen – nicht durch Serien-Sanktionen Leistungsansprüche aushöhlen.
Diese Linie hat das LSG Hamburg ausdrücklich übernommen; weitere Landessozialgerichte haben ihr zugestimmt.
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Bescheid prüfenKonkrete Fehler im Fall
Die Einladungen beschränkten sich auf uniforme Standardzwecke („Bewerberangebot/berufliche Situation“), obwohl dem Jobcenter eine Serie von Nichterscheinen bekannt war. Weder wurde aufgearbeitet, aus welchen Gründen die Betroffene fernblieb – etwa gesundheitliche Einschränkungen, Kommunikations- oder Wegeprobleme sowie Betreuungsverpflichtungen –, noch wurden nachvollziehbare Gründe dafür dargelegt, am identischen Vorgehen festzuhalten, obwohl der Erfolg offensichtlich ausblieb.
Naheliegende Alternativen wie eine medizinische oder psychologische Begutachtung, alternative Kontaktformate, zeitliche oder örtliche Anpassungen oder andere Integrationsschritte wurden nicht ernsthaft erwogen.
Praxisleitfaden für Betroffene
1) Bescheid prüfen:
- Wiederholen sich Zweck und Textbausteine?
- Fehlt eine individuelle Begründung, warum gerade die erneute Standard-Vorsprache eingliederungsförderlich sein soll?
- Wurde auf Hinderungsgründe eingegangen?
2) Widerspruch/Klage begründen – Argumentationsanker:
- Ermessensunterschreitung/-defizit: Keine erkennbaren, fallbezogenen Erwägungen bei Serien-Einladungen.
- Zielverfehlung: Förder- statt Sanktionslogik (§ 1 Abs. 2 SGB II); reine Sanktions-Kette ist rechtswidrig.
- Alternativen ignoriert: Medizinische Abklärung bei Zweifeln an Erwerbsfähigkeit; andere, geeignetere Maßnahmen.
3) Eigene Mitwirkung dokumentieren:
- Hinderungsgründe zeitnah schriftlich darlegen (Atteste, Termine, Wegefähigkeit, Betreuung).
- Alternativen vorschlagen: Telefon/Video, flexible Zeiten/Orte, aufsuchende Beratung, Ärztliches.