Im einstweiligen Rechtsschutz hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg (Az. L 18 AS 1372/18 B ER) das Jobcenter verpflichtet, Stromschulden des Leistungsberechtigten in Höhe von ca. 10.000 € darlehensweise zu übernehmen. Rechtsgrundlage ist § 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II.
Inhaltsverzeichnis
Verfassungsrechtliche Abwägung: Menschenwürdige Existenz sichern
Das Gericht misst der Sicherung der Stromversorgung – und damit der Sicherung einer zu Wohnzwecken dienenden Unterkunft – verfassungsrechtlich ein überragendes Gewicht bei. Die Ablehnung des Antrags hätte gesundheitliche Beeinträchtigungen und damit einen nicht rückgängig zu machenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zur Folge. Diese steht unter dem besonderen Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Stromsperre als klarer Anordnungsgrund
Der Anordnungsgrund ergibt sich bereits aus der vollzogenen Stromsperre. Der Versorger hebt die Sperre erst nach vollständiger Begleichung der Schulden auf. Ein Wechsel zu einem anderen Anbieter ist faktisch keine realistische Option, weil dafür die Einwilligung des Grundversorgers erforderlich ist.
Sachverhalt: Zeitlicher Ablauf und offene Punkte
Der Antragsteller bezog die Wohnung im Oktober 2014 und beglich zunächst die Stromkosten. Der Versorger macht Rückstände seit dem 30. Dezember 2015 geltend. Am 7. März 2018 wurde der Strom gesperrt – ein Zustand, der einem Wohnungsverlust gleichkommt.
Im Eilverfahren ließ sich nicht abschließend klären, warum keine Abschlagszahlungen mehr erfolgten und wie der außergewöhnlich hohe Stromverbrauch zustande kam: zuletzt über 13.000 kWh pro Jahr bei monatlichen Abschlägen von 647 €. Der Antragsteller macht hierfür den alten Stromzähler verantwortlich, der am 15. März 2018 ausgetauscht wurde.
Ebenso bedarf es weiterer Aufklärung, ob der Antragsteller in den Jahren 2015 bis 2017 krankheitsbedingt möglicherweise nicht in der Lage war, seine persönlichen Angelegenheiten zu regeln.
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Bescheid prüfenKein gezielter Missbrauch erkennbar
Ein missbräuchliches, gezieltes Herbeiführen der Stromschulden kann dem Antragsteller derzeit nicht ohne Weiteres vorgeworfen werden. Es ist nicht ersichtlich, dass zuvor bereits Energieschulden vom Leistungsträger übernommen wurden. Zudem ist nicht von verwertbaren Vermögensgegenständen auszugehen, mit denen sich die Schulden tilgen ließen.
Rechtsfolge: Darlehen und direkte Zahlung an Versorger/Inkasso
Die Übernahme der Stromschulden hat gemäß § 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II als Darlehen zu erfolgen. Unter Anwendung von § 22 Abs. 7 Satz 2 und Satz 3 Nr. 2 SGB II wurde das Jobcenter verpflichtet, direkt an den Energieversorger beziehungsweise das beauftragte Inkassounternehmen zu zahlen, weil Anhaltspunkte bestehen, dass die zweckentsprechende Verwendung durch den Antragsteller nicht gesichert ist.
Auflagen: Mitwirkungspflichten zur Sicherung der Versorgung
Das LSG nutzt die nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 938 ZPO bestehende Möglichkeit, die Zahlung von Mitwirkungshandlungen abhängig zu machen. Ziel ist die dauerhafte Stromversorgung und damit der Erhalt der Wohnung – der Zweck der Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II. Konkret ordnet das Gericht an:
- Zustimmung zur Direktüberweisung der künftigen Abschlagszahlungen an den Stromversorger, um weitere Streitigkeiten über die Berechtigung zur Direktzahlung zu vermeiden.
- Wirtschaftliches Verbrauchsverhalten: Der Antragsteller ist zu einem sparsamen Stromverbrauch anzuhalten – erst recht, seit der neue Zähler den vom Antragsteller benannten Grund für den überhöhten Verbrauch mutmaßlich beseitigt.
- Monatliche Mitteilung des Zählerstands an das Jobcenter. So kann der Leistungsträger bei fortgesetztem unwirtschaftlichem Verbrauch eine erneute Schuldenübernahme verhindern.
Einordnung des Experten: Darlehen ist die Regel, Zuschuss die Ausnahme
Nach § 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II sind Geldleistungen regelmäßig als Darlehen zu erbringen; Zuschüsse kommen nur ausnahmsweise in atypischen Fällen in Betracht.
Selbst wirtschaftlich unvernünftiges (vorwerfbares) Verhalten, das eine drohende Wohnungslosigkeit mitverursacht haben mag, schließt den Leistungsanspruch auf Übernahme von Stromschulden nicht aus.
Entscheidend ist die Sicherung der Unterkunft als elementares Grundbedürfnis – notfalls auch bei schuldhafter Gefährdung. Diese Sicherstellung folgt aus der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09).