Arbeitslosengeld: Arbeitsagenturen dürfen nicht ausnahmslos auf die postalische Erreichbarkeit pochen

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Aufhebungsbescheid rechtswidrig, wenn der Arbeitslose trotz Umzug erreichbar war – Urteil mit SignalwirkungA
Bei einem Umzug ist für die Frage der Verfügbarkeit nicht mehr – ausnahmslos auf die briefpostalische Erreichbarkeit abzustellen, denn angesichts der Entwicklung digitaler Kommunikationswege zwischen der Agentur für Arbeit und der Versicherten erachtet es das Gericht als nicht zeitgemäß, wenn alleinig und ausnahmslos auf die briefpostalische Erreichbarkeit abgestellt wird ( Sozialgericht Hildesheim,Urteil vom 16.09.2025 – S 3 AL 26/23 – Berufung zugelassen ).

SG Hildesheim: Erreichbarkeit eines Arbeitslosen trotz Umzug während des ALG-Bezugs in Zeiten zunehmender Digitalisierung

Die Arbeitslose verlor aufgrund der verspäteten Meldung der neuen Postanschrift nicht den Status als Arbeitslose im Sinne von §138 SGB III. Die Klägerin war verfügbar.

Erreichbarkeit trotz Umzug – keine wesentliche Änderung der Verfügbarkeit, denn angesichts der Entwicklung digitaler Kommunikationswege zwischen der Agentur für Arbeit und der Versicherten erachtet es das Gericht als nicht zeitgemäß, wenn alleinig und ausnahmslos auf die briefpostalische Erreichbarkeit abgestellt wird ( ebenso SG Berlin, Urteil vom 13. März 2024 – S 185 AL 1208/21 – unveröffentlicht ).

In Fällen wie dem vorliegenden kann die Regelung in § 7b SGB II als Vorbild herangezogen werden

Denn gemäß § 7b Abs. 1 Satz 2 SGB II sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte erreichbar, wenn sie sich im näheren Bereich des zuständigen Jobcenters aufhalten und werktäglich dessen Mitteilungen und Aufforderungen zur Kenntnis nehmen können.

Die werktägliche Kenntnisnahme von Mitteilungen und Aufforderungen des zuständigen Jobcenters schließt nicht nur die Möglichkeit ein, Dritte zu beauftragen, sondern auch die Nutzung moderner Kommunikationsmittel unter Beachtung des Datenschutzes. Das bedeutet, dass die leistungsberechtigte Person nicht täglich unter der angegebenen Anschrift persönlich oder durch Briefpost erreichbar sein muss.

Verfügbarkeit gem. § 138 Abs. 5 Nr. 2 SGB III – Besonderheiten des Einzelfalles sind zu berücksichtigen

Bei der Beurteilung der Frage, ob die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen der Verfügbarkeit gem. § 138 Abs. 5 Nr. 2 SGB III vorliegen, sind sämtliche Besonderheiten des Einzelfalles zur berücksichtigen.

Zu berücksichtigen sind dabei die Vermittlungsaktivität der Arbeitsverwaltung, die Entfernung des neuen vom alten Wohnsitz, das Bestehen einer durchgehend gegebenen faktischen Erreichbarkeit, die schriftliche Kommunikation durch eService nebst E-Mail-Weiterleitung, die Einrichtung eines Postnachsendeauftrag und eine aufgrund Eigeninitiative des Versicherten gelungene zügige Beendigung des Leistungsbezugs durch Arbeitsaufnahme.

Fazit:

Die Bewilligung von ALG 1 war nach Ansicht der Kammer – nicht aufzuheben, denn

Durch den eService der Agentur für Arbeit war eine Kommunikation vorhanden

1. Im Falle der Klägerin war durch den eService der Agentur für Arbeit eine Kommunikation vorhanden, so z.B., um der Klägerin Vermittlungsangebote oder Bescheide zukommen zu lassen.

Wohnsitzwechsel nicht mit großer Distanz

2. Auch erfolgte ein Wohnsitzwechsel nicht mit großer Distanz, beispielsweise in ein anderes Bundesland. Die Klägerin trug in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, dass sie in der Zeit nach dem Umzug regelmäßig zu ihrer alten Wohnanschrift gefahren sei, um dort eingegangene Post abzuholen.

Postnachsendeauftrag

3. Des Weiteren sorgte die Klägerin bzw. ihr Ehemann für einen Postnachsendeauftrag.

Für das Gericht war ebenfalls ausschlaggebend

Dass sich die Klägerin offensichtlich ernsthaft um eine künftige Arbeitsaufnahme bemüht hatte. Eine mangelnde Verfügbarkeit der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum war für das Gericht daher nicht nachvollziehbar. Die Klägerin war arbeitslos und der Bescheid über die Bewilligung von Arbeitslosengeld daher nicht aufzuheben.

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock

SG Berlin: Erreichbarkeit eines Arbeitslosen trotz Umzug während des ALG-Bezugs in Zeiten zunehmender Digitalisierung

Die 185. Kammer des Sozialgerichts Berlin hatte im Frühjahr 2024 schon bekannt gegeben, dass ein Aufhebungsbescheid rechtswidrig ist, wenn der Arbeitslose trotz Umzug erreichbar war.

Weil im konkreten Fall durch Nutzung des eService der Agentur für Arbeit ( AA ), Schaltung eines Postnachsende – Auftrags und Verbleib im Nahbereich nach § 2 EAO durch den Arbeitslosen keinerlei Beeinträchtigung der Verfügbarkeit gemäß § 138 Abs. 5 SGB III festzustellen war.

Und damit hat die fehlende Meldung des Umzugs zu keiner wesentlichen Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geführt, die beim Erlass des Bewilligungsbescheides vorgelegen haben.

Mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel sind Arbeitslose in der Lage, auch ohne tägliches Erscheinen in der Wohnung umgehend auf Mitteilungen der Agenturen für Arbeit oder auf Angebote anderer Stellen zu reagieren, zumal auch die Bundesagentur für Arbeit selbst mit ihren Online-Angeboten („eServices“) wirbt.

So entschieden vom SG Berlin, 13.03.2024 – S 185 AL 1208/21 – veröffentlicht in der info also 2024,110 (m. Anm. Körtek) – in Berufung beim LSG Berlin-Brandenburg – L 14 AL 21/24 -.

Rechtstipp vom Experten:

Einzelne Regelungen der EAO wie auch die von den Agenturen im konkreten Einzelfall vorgenommene Anwendung der EAO müssen sich unter anderem an dem in Art. 20, 28 I GG normierten Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (im Sinne eines Übermaßverbots) messen lassen (so bereits SG Berlin, Urteil vom 9.11.2023 – S 185 AL 725/20 – , bislang unveröffentlicht).