Die Ampelkoalition plant, das Bürgergeld einzudampfen und Sanktionen auszubauen. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), widerspricht entschieden: Schon heute reicht der Regelsatz kaum für ein Leben in Würde. Neue Studien seines Hauses und des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zeigen, dass ein Sparkurs höhere Folgekosten und gesellschaftliche Spaltung erzeugt.
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Fratzscher: „Reform würde Millionen Menschen weiter abhängen“
In seiner ZEIT-Kolumne vom 7. Juli 2025 legt Fratzscher offen, warum er den Regierungsplan für gefährlich hält. Niedrigere Leistungen verringerten nicht nur den Konsum, sondern kappten auch Chancen auf Bildung, Gesundheit und Arbeit. Laut DIW Modellrechnung würde jeder gekürzte Euro das Bruttoinlandsprodukt mittelfristig um 1,30 Euro schmälern, weil Kaufkraft fehlt und Folgeausgaben steigen.
563 Euro + X – warum der Bedarf real höher liegt
Das Bürgergeld sichert Alleinstehenden 563 Euro im Monat. Eine DIW-Auswertung von Haushaltsbüchern berechnet jedoch einen Mindestbedarf von rund 740 Euro für Grundkosten wie Wohnen, Energie, Ernährung und Mobilität. Das Delta zwingt Betroffene zu Verzicht:
- Über 50 % der befragten Eltern überspringen selbst Mahlzeiten, um ihre Kinder zu versorgen.
- Jede zweite Familie meldet an den Tafeln zusätzlichen Bedarf an Lebensmitteln.
Scham senkt Teilhabe und Jobchancen
Drei Viertel der Leistungsbeziehenden erleben ihr Leben als „nicht würdevoll“. Fast jeder Zweite bricht Vereinsmitgliedschaften ab oder meidet Arztbesuche, um Kosten zu sparen. DIW-Soziologen verknüpfen dieses Rückzugsverhalten mit geringerer Wahlbeteiligung und sinkender Bereitschaft, an Weiterbildungen teilzunehmen – ein direkter Bremser für den Arbeitsmarkt.
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Sanktionen treiben in prekäre Jobs
Eine Langzeitanalyse des IAB begleitet 125 000 Bürgergeld-Beziehende über vier Jahre. Das Ergebnis: Sanktionierte finden schneller Beschäftigung, aber meist im Niedriglohnsektor.
Vier Jahre nach der Strafe verdienen Männer sieben, Frauen acht Prozent weniger als nicht Sanktionierte. Zudem steigt ihr Risiko einer erneuten Arbeitslosigkeit um bis zu 28 Prozent. Fratzscher schlussfolgert: „Das Instrument schadet mehr, als es nützt.“
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Bescheid prüfenJobcenter am Limit – und doch Schlüssel zur Integration
DIW-Umfragen unter Fallmanagerinnen beschreiben knappe Budgets und über 150 aktive Fälle pro Beraterin. Individuelle Förderschemata bleiben Wunschdenken. Fratzscher fordert deshalb eine Verdopplung der Mittel für Qualifizierung, Coaching und psychologische Begleitung. Nur so lasse sich die dauerhafte Rückkehr in existenzsichernde Arbeit realisieren.
Alleinerziehende treffen zwei Engpässe zugleich
Etwa 800 000 Leistungsbeziehende arbeiten, müssen aber aufstocken, weil Löhne niedrig sind oder Betreuungsplätze fehlen. 60 Prozent dieser Gruppe sind alleinerziehende Mütter.
Das DIW verknüpft Bürgergeld-Kürzungen und mangelnde Ganztagsbetreuung mit einem erhöhten Risiko „chronischer Niedrigeinkommen“. Fratzscher spricht von einem „Doppelverschulden des Staates“: fehlende Care-Infrastruktur plus finanzielle Kürzung.
Totalverweigerer sind eine Randnotiz
2023 verweigerten 16 000 Personen jede Kooperation mit den Jobcentern – ein Anteil von 0,3 Prozent. Fratzscher sieht darin keinen Anlass für Generalverdacht: „Politik darf nicht das Bild des Arbeitsunwilligen bedienen, um harte Einschnitte zu legitimieren.“
Populistische Schuldzuweisungen kosten gesellschaftlichen Zusammenhalt
Fratzscher warnt, dass diffamierende Kampagnen gegen Bürgergeld-Beziehende Ressentiments nähren. Wer den Eindruck gewinnt, „Eigene Schuld“ dominiere, verliere Vertrauen in staatliche Fairness. Das schwäche auch die Demokratie, weil ausgegrenzte Gruppen politische Prozesse meiden.
Investition in Menschen spart Milliarden
DIW-Berechnungen zeigen: Jeder in Qualifizierung oder Kinderbetreuung investierte Euro senkt langfristige Sozial- und Gesundheitsausgaben um 1,70 Euro. Höhere Regelsätze stabilisieren lokale Märkte und steigern Steuereinnahmen. Wer heute Bürgergeld bezieht, kann morgen als Fachkraft Steuern zahlen – wenn Unterstützung stimmt.