Große Studie: Aus Angst beantragen 50 Prozent der Berechtigten kein Hartz IV

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Neue Studie: “Die Angst vor Stigmatisierung hindert Menschen daran, Transferleistungen in Anspruch zu nehmen”

Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nehmen Hundertausende in Deutschland Sozialleistungen wie Hartz IV aus Angst vor Stigmatisierung oder moralischer Scham nicht in Anspruch. Dadurch besteht eine vielfach größere Armut, als statistisch messbar.

Die meisten Sozialleistungen wie Hartz IV oder Grundsicherung im Alter müssen beantragt werden. Diese Leistungen werden nicht, wie beispielsweise das Kindergeld, quasi automatisch ausgezahlt. Weil diese beantragt werden müssen, können zwar Behörden, wie das Jobcenter, eine Anspruchsvorrausetzungen überprüfen, das führt aber auch dazu, dass nicht alle tatsächlich Bedürftigen Leistungen erhalten.

Rund 50 Prozent nehmen Sozialleistungen nicht in Anspruch

Gerade bei Hartz IV ist die Hürde sehr groß. Viele Unterlagen müssen eingereicht werden. Die komplette persönliche und finanzielle Situation muss offengelegt werden. Zahlreiche Anträge mit zum Teil komplizierten Fragen müssen beantwortet werden. Immer wieder müssen neue Dokumente eingereicht werden, wenn sich aus den Informationen der Antragstellung neue Fragen ergeben. Vermieter werden durch Direktzahlungen involviert, direkte Angehörige überprüft. In Deutschland wird die Nichtinanspruchnahme (non take-uprate) allein bei den Hartz IV Leistungen auf 43 bis 56 Prozent geschätzt. Im Alter wird die Quote sogar auf 60 Prozent geschätzt. Das führt dann wiederrum dazu, dass staatliche Programme nicht zum Ziel führen, Armut tatsächlich zu bekämpfen.

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Wenn der Hartz IV-Antrag zur reinen Schikane wird

In der Studie der DIW wird als häufiger Grund “Scham” genannt. Im Vergleich zu anderen Hemmnissen, wie beispielsweise zu wenig Informationen oder Transaktionskosten, gab es aber nur wenig empirische Forschung zu den Effekten der Stigmatisierung von Sozialleistungen. Im Studienverlauf zeigte sich, dass viele Menschen fürchten, als weniger Leistungsfähig oder als “Trittbrettfahrer” wahrgenommen zu werden. Wenn die Inanspruchnahme wie bei Hartz IV für andere Menschen sichtbar ist, verzichten viele deswegen auf Sozialleistungen trotz Anspruch.

Als weitere Gründe, warum Berechtigte Sozialleistungen nicht beantragen, werden in der Regel Informationsdefizite (Berechtigte wissen nicht, dass sie berechtigt sind oder wie sie sich bewerben können) und Transaktionskosten (die Zeit und Arbeit für die Antragstellung übersteigen die erwarteten Bezüge) angeführt. Ein weiterer Grund ist die Komplexität der Antragstellung. Viele Leistungsberechtigte scheuen die Auseinandersetzung oder wollen sich nicht dem Prozedere aussetzen und verzichten dann lieber auf Transferleistungen. Darüber hinaus zeigt die Studie, dass die Aversion, sich mit unübersichtlichen Materialen zu beschäftigen besonders die Bedürftigsten, denen die höchsten Zuschüsse zustünden, vor einer Beantragung abhalten.

Beantragung muss privat und vereinfacht sein

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine möglichst diskrete Gestaltung des Beantragungs- und Auzahlungsprozesses dazu beitragen kann, die Stigmatisierung abzubauen und somit die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu erhöhen. Denn im Verlauf der Untersuchung zeigte sich, dass fast alle Personnen Sozialleistungen beanspruchten, wenn die Beantragung diskret und privat gestaltet war – und das unabhängig davon, ob die Berechtigung auf niedrigem Allgemeinwissen oder Zufall beruhte.

In Zahlen: Laut DIW würden 88 Prozent der Berechtigten Sozialleistungen beantragen, wenn diese nicht öffentlich wären. 55 Prozent beantragen Leistungen wie Hartz IV, auch wenn diese öffentlich sind. Das ergibt eine Differenz von 34 Prozent.

„Unser Laborexperiment zeigt: Für Menschen, denen eine Transferzahlung zusteht, spieltes tatsächlich eine große Rolle, was andere im Prozess der Beantragung und der Auszahlung über sie in Erfahrung bringen können. Sie fürchten sich vor dem Urteil der anderen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit. Diese Angst vor Stigma kann sie davon abhalten, die Zahlung abzurufen”, sagt die Studienautorin Jana Friedrichsen.

Die Ergebnisse legen somit nahe, dass Stigma besonders dann relevant ist, wenn der Bezug eines Transfers für andere sichtbar ist. Die Autoren der Studie legen somit nahe, dass Veränderungen bei der Beantragung zielführend seien, damit Sozialleistungen bei den Berechtigten ankommen.

Eine Vereinfachung mit möglichst hoher Privatsphäre helfen mehr als simple Appelle. Will also die Politik Armut tatsächlich bekämpfen, muss sie hier ansetzen. Als Lösungsmodelle empfehlen die Forschenden, Anspruchsberechtigten beispielsweise die Möglichkeit zu eröffnen, einen Antrag online zu stellen. Eine weitere Möglichkeit bestünde, wenn die Anträge bei Bürgerämtern gestellt werden könnten, in denen auch nicht stigmatisierte Anliegen bearbeitet würden.

“Zielführend könnte auch ein automatischer Datenaustauschzwischen verschiedenen Ämtern sein, der es ermöglichen würde, Sozialleistungen ohne separaten Antrag auszuzahlen”, so die Forscher. Würde von einer Vermögensprüfung abgesehen, könnten “beispielsweise die Ämter für Soziales aus Steuerinformationen die Grundsicherungsansprüche für die meisten Rentner selbst berechnen.” So ähnlich wird dies beispielsweise in Österreich praktiziert. Dort wird auf eine Vermögensüberprüfung vertichtet und bei jedem Antrag geprüft, ob durch ein geringes Gesamteinkommen Anspruch auf die „Ausgleichszulage“ besteht. In dem Fall wird sie ohne weiteren Antrag mit der Pension ausbezahlt.

Politisch gewollt?

Politisch kann aber die Frage gestellt werden, ob dies überhaupt gewünscht wird. Dieser Frage wird in der Studie jedoch nicht nachgegangen. Zwangsläufig stellt sich aber die Frage, wenn Hartz IV derart komplex gestaltet ist. Eine Vereinfachung und vor allem eine nicht-stigmatisierende Beantragung, würde zu weiteren Milliardenausgaben führen. Letztlich werden in der öffentlichen Debatte Hartz IV Beziehende für ihre Situation nicht selten selbst verantwortlich gemacht. Das Bild von Hartz IV Beziehenden wird medial gezeichnet. Leistungsberechtigte seien arbeitsscheu, faul und Alkoholabhängig. Die Scheu, mit Einzelfällen, die in den Medien als Paradebeispiele dienen, in einen Topf geworfen zu werden, ist groß. Neben der Vereinfachung der Beantragung ist hier ein weiteren Hebel, um Sozialleistungen mehr Anspruchsberechtigten zu ermöglichen.

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