Die Debatte über die Zukunft der Grundsicherung erreicht einen neuen Höhepunkt. Die schwarz-rote Bundesregierung will das Bürgergeld zur „neuen Grundsicherung“ umbauen. Kanzler Friedrich Merz begründet das mit der Notwendigkeit „großer Reformen“ und der Diagnose, Deutschland lebe „seit Jahren über unsere Verhältnisse“. Die Tonlage markiert den politischen Anspruch: straffer vollziehen, rascher vermitteln, ausgabenwirksame Regeln zurückdrehen.
Inhaltsverzeichnis
Das Beschlusspapier: Inhalt und Stoßrichtung
Zentraler Punkt ist das gemeinsame Beschlusspapier der Geschäftsführenden Vorstände von CDU/CSU und SPD vom 29. August 2025. Darin kündigt die Koalition an, das Bürgergeld „zu einer neuen Grundsicherung“ umzugestalten, Rechte und Pflichten verbindlicher festzuschreiben und Jobcenter „ausreichend“ zu finanzieren.
Jeder Erwerbslose soll ein persönliches Angebot erhalten; der Passiv-Aktiv-Transfer (PAT) wird gesetzlich verankert und ausgeweitet. Für alle, die arbeiten können, gilt der Vorrang der Vermittlung; bei Vermittlungshemmnissen sollen Qualifizierung, Gesundheitsförderung und Reha helfen.
Besonders umstritten ist der Satz: „Wer trotz Arbeitsfähigkeit wiederholt zumutbare Arbeit ablehnt, muss künftig mit einem vollständigen Leistungsentzug rechnen.“
Zugleich erwähnt das Papier, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten sowie die besondere Situation psychisch erkrankter Menschen. Beim Vermögen soll die Karenzzeit entfallen; das Schonvermögen wird an die „Lebensleistung“ gekoppelt. Bei unverhältnismäßig hohen Unterkunftskosten (KdU) soll ebenfalls keine Karenzzeit mehr gelten.
Sanktionen mit Verfassungsbruch
Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. November 2019 Leitplanken gezogen. Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten sind grundsätzlich zulässig, aber nur in engen Grenzen. Pauschale Kürzungen um 60 Prozent oder ein genereller Totalausfall der Leistungen sind verfassungswidrig; als Übergangsgrenze gilt eine Kürzung bis maximal 30 Prozent.
Eine vollständige Streichung kommt allenfalls in engsten Ausnahmen in Betracht, etwa wenn ein konkretes Arbeitsangebot die Hilfebedürftigkeit sofort beendet hätte. Zudem sind Härtefälle zu berücksichtigen; Sanktionen müssen enden, sobald Pflichten nachgeholt werden. Wer Sanktionen verschärfen will, trägt daher eine hohe Begründungslast.
Aus Regierungskreisen und Medienberichten zeichnen sich zwei Stoßrichtungen ab. Erstens sollen Meldeversäumnisse deutlich härter gefasst werden, mit einer 30-Prozent-Kürzung schon beim ersten Verstoß.
Zweitens hält die Koalition am Ziel fest, bei wiederholter Zumutbarkeits-Ablehnung einen vollständigen Leistungsentzug zu ermöglichen. Das erste Element wurde bereits im vergangenen Jahr in Boulevard- und Fachberichten vorgezeichnet; das zweite steht – wörtlich – im Beschlusspapier selbst, wird aber verfassungsrechtlich besonders heikel.
Warum zwei Gesetzespakete?
Die KdU-Regeln berühren die Finanzverantwortung von Ländern und Kommunen. Entsprechend ist für diesen Block mit einem zustimmungspflichtigen Gesetz zu rechnen – politisch realistisch also ein Zweiteiler: Zunächst ein Bundesgesetz zu Sanktionen, Mitwirkungspflichten und Vermögensregeln; später ein zustimmungspflichtiges KdU-Gesetz.
Aus Regierungskreisen heißt es, Arbeitsministerin Bärbel Bas wolle das erste Paket im September ins Kabinett bringen; über KdU-Pauschalierungen soll gesondert entschieden werden.
Vermögen, „Lebensleistung“ und das Ende der Karenzzeit
Mit dem Bürgergeld wurde eine Vermögens-Karenzzeit eingeführt, die zuletzt bereits verkürzt wurde. Schwarz-Rot plant nun den Wegfall dieser Schonfrist und will das Schonvermögen an die „Lebensleistung“ koppeln.
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Bescheid prüfenWas das genau heißt, ist offen: Denkbar wären z. B. arbeitsbiografische oder beitragsbezogene Parameter – doch jedes Modell erzeugt Abgrenzungsfragen und Bürokratie. Arbeitgeber- und Wohlfahrtsverbände bewerten die Idee höchst unterschiedlich; Kritik entzündet sich vor allem am Vollzugsaufwand und an der Gefahr neuer Ungleichbehandlungen.
Unterkunftskosten: Politisch brisant, föderal sensibel
Die vorgesehene Aufhebung der Karenzzeit bei „unverhältnismäßig hohen“ KdU greift tief in die Praxis der Jobcenter ein. Nach einem Jahr uneingeschränkter Übernahme tatsächlicher Wohnkosten (Karenzzeit) greift bisher die Angemessenheitsprüfung.
Künftig soll die Schonzeit entfallen, wenn Kosten die Angemessenheit erheblich überschreiten – was die Zahl der Kostensenkungsverfahren erhöhen dürfte und sozialen Druck auf angespannte Wohnungsmärkte verlagert. Über Details, Definitionen und Übergänge entscheidet das zweite, wohl zustimmungspflichtige Gesetz.
Passiv-Aktiv-Transfer: Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren
Die gesetzliche Verankerung und Ausweitung des PAT zielt darauf, Mittel aus „passiven“ Leistungen (Regelbedarf, KdU, Sozialversicherungsbeiträge) aktiv für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu nutzen – etwa in Verbindung mit § 16i SGB II („Teilhabe am Arbeitsmarkt“).
Fachpapiere von BMAS, Kommunalverbänden und Forschungseinrichtungen begrüßen die Grundidee, verweisen aber auf enge fiskalische Spielräume, Verwaltungsaufwand und die Notwendigkeit solider Wirkungsnachweise. Entscheidend wird sein, ob PAT-Finanzierungen verlässlich und entfristet angelegt werden.
Folgen für Jobcenter und Betroffene
Für die Jobcenter bedeutet der Kurs mehr Steuerung, schnellere Verfahren und strengere Mitwirkung – bei gleichzeitigem Anspruch auf „ausreichende“ Mittel. In der Sanktionspraxis entfällt der oft kritisierte 10-Prozent-Einstieg; das erhöht sofort den finanziellen Druck bei Meldeversäumnissen, die den Großteil der Sanktionsfälle ausmachen.
Die Arbeitsforschung bestätigt zwar, dass Sanktionen Verhaltenswirkungen entfalten können, weist aber ebenso auf unerwünschte Nebenfolgen hin – bis hin zu Instabilität neu aufgenommener Beschäftigung. Eine reine „Härte-Logik“ ersetzt daher keine individuelle Förderung bei Qualifikation, Gesundheit und Betreuung.
Verfassungsrisiko „Totalsanktion“
Der politisch zugespitzte Punkt ist der vollständige Leistungsentzug. Der Karlsruher Rahmen lässt – jenseits seltener Ausnahmen – keine Totalsanktionen zu, wenn dadurch das menschenwürdige Existenzminimum unterschritten wird.
Wer gleichwohl einen generellen Totalentzug bei wiederholter Ablehnung „zumutbarer“ Arbeit normieren will, müsste die Grundsicherung substantiell neu systematisieren (z. B. über verpflichtende Sachleistungen) und engste Einzelfall-Schranken definieren. Selbst dann bliebe die Norm rechtlich angreifbar. Juristische Einordnungen sprechen entsprechend von einem hohen Prozess- und Korrekturrisiko.
Verfahren, Zeitplan, Konfliktlinien
Stand heute ist offen, ob der Referentenentwurf bereits im September oder erst im Oktober vorliegt. Erwartbar ist ein Zwei-Stufen-Vorgehen: zuerst Bundeskompetenzen (Sanktionen, Vermögen, Vermittlung), danach das zustimmungspflichtige KdU-Paket.
In beiden Teilen werden Bundestag und – bei KdU – Bundesrat erhebliche Änderungen verhandeln. Politisch stellt sich am Ende die Kernfrage, ob die Koalition Härte und Hilfe rechtssicher austariert – oder ob Karlsruhe erneut Korrekturen erzwingt.
Quellenhinweise (Auswahl): Beschlusspapier CDU/CSU & SPD, 29. 8. 2025; BVerfG-Urteil zu SGB-II-Sanktionen vom 5. 11. 2019; Table.Media zur Aufteilung in zwei Gesetze; Berichte zu 30-%-Sanktionen bei Meldeversäumnis; Forschung zu Wirkungen von Sanktionen; öffentliche Äußerungen des Bundeskanzlers, Tacheles e.V..