Schwerbehinderung: Der Sonderkündigungsschutz gilt nicht immer

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Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) schreibt besondere Schutzrechte für schwerbehinderte Beschäftigte vor. Mit § 164 Abs. 4 SGB IX (ehemals § 81 Abs. 4 SGB IX) besteht ein Anspruch auf eine behinderungsgerechte Ausgestaltung des Arbeitsplatzes, sodass schwerbehinderte Menschen möglichst langfristig und entsprechend ihrer Fähigkeiten eingesetzt werden können.

Gleichzeitig haben Arbeitgeber nach wie vor das Recht, Arbeitsabläufe zu ändern und Stellen abzubauen, wenn die betrieblichen Erfordernisse dies notwendig machen.

In welchen Situationen greift der besondere Kündigungsschutz nicht?

Der besondere Kündigungsschutz ist in folgenden Fällen nicht wirksam:

  1. Wegfall der bisherigen Tätigkeit
    Eine unternehmerische Entscheidung kann dazu führen, dass bestimmte Stellen nicht mehr benötigt werden. Schwerbehinderte Beschäftigte können hier keine Fortsetzung des alten Arbeitsplatzes erzwingen, wenn es keine andere passende Stelle gibt.
  2. Keine freien Alternativ-Arbeitsplätze
    Die gesetzlichen Regelungen (etwa § 164 Abs. 4 SGB IX) verpflichten den Arbeitgeber nicht, extra neue Stellen zu schaffen. Finden sich keine vergleichbaren freien Positionen, muss sich das Unternehmen nicht gegen sein eigenes Betriebskonzept stellen.
  3. Kein Vorrang bei „Freikündigung“
    Schwerbehinderte können nicht verlangen, dass andere Arbeitnehmer entlassen werden, um ihnen eine Stelle zu erhalten. Der Arbeitgeber muss nur die bereits vorhandenen Möglichkeiten für eine Weiterbeschäftigung prüfen.

Arbeitgeberfreiheit vs. behinderungsgerechte Beschäftigung

Der Gesetzgeber betont die Arbeitgeberfreiheit. Betriebe dürfen ihre Organisation ändern, um wirtschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Der Anspruch auf einen behindertengerechten Arbeitsplatz schützt vor willkürlichen Änderungen; er führt jedoch nicht zu einer „Beschäftigungsgarantie“, wenn tatsächlich keine freien Arbeitsplätze mehr existieren oder der gesamte Arbeitsbereich wegfällt.

Beispiel aus der Praxis: Langjähriger Schwerbehinderter gekündigt

Ein Gießereibetrieb geriet in Insolvenz und plante den Abbau von 17 der insgesamt 73 Arbeitsplätze. Mithilfe einer Namensliste wurde festgelegt, wer gehen musste. Unter den Betroffenen war ein schwerbehinderter Mitarbeiter, dessen Aufgaben nach der Entscheidung intern auf andere verteilt wurden.

Da keine geeignete Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bestand und das Integrationsamt zustimmte, sprach der Arbeitgeber eine betriebsbedingte Kündigung aus.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) bestätigte in seinem Urteil vom 16. Mai 2019 (Az. 6 AZR 329/18), dass der besondere Kündigungsschutz hinter die unternehmerische Organisationsentscheidung zurücktreten kann, sofern alle formellen Verfahren – einschließlich Anhörung des Betriebsrats, Massenentlassungsanzeige und Zustimmung des Integrationsamts – ordnungsgemäß durchgeführt wurden.

Wichtige Schritte bei Massenentlassungen

  • Interessenausgleich und Namensliste: Betriebsrat und Arbeitgeber klären im Vorfeld, welche Stellen entfallen.
  • Massenentlassungsanzeige: Je nach Anzahl der betroffenen Personen muss eine Anzeige bei der Agentur für Arbeit erfolgen (§ 17 Kündigungsschutzgesetz).
  • Zustimmung des Integrationsamts: Schwerbehinderte Arbeitnehmer dürfen nur mit Zustimmung des Integrationsamts gekündigt werden

Zusammenfassung: Warum der Sonderkündigungsschutz manchmal entfällt

Beschäftigungsanspruch: Schwerbehinderte Arbeitnehmer können Anpassungen ihres Arbeitsplatzes bis zur Zumutbarkeitsgrenze verlangen.

Organisationsentscheidung: Arbeitgeber dürfen eigenständig über interne Umstrukturierungen entscheiden, auch wenn das zum Wegfall bestimmter Arbeitsplätze führt.

Betriebliche Erfordernisse: Liegen diese vor und gibt es keine passenden Alternativen, ist auch eine Kündigung gegenüber Schwerbehinderten zulässig.

Grenzen der Schutzregelungen: Unternehmen sind nicht verpflichtet, zusätzliche Stellen für schwerbehinderte Mitarbeiter einzurichten oder andere Mitarbeiter zu kündigen, damit ihr Arbeitsplatz erhalten bleibt.