EM-Rente: Fehleinschätzung der eigenen Leistung führt zu voller Erwerbsminderung

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Der Weg, um eine Rente wegen Erwerbsminderung zu bekommen, ist oft verschlungen, und dies gilt speziell für psychische und psychosomatische Beschwerden, die zu einer Leistungsminderung führen. Das Sozialgericht entschied jetzt, dass eine falsch subjektive Einschätzung der eigenen Erkrankung eine volle Erwerbsminderung rechtfertigte statt einer teilweisen. (S 105 R 1771/21)

Nach Unfall teilweise Erwerbsminderung

Der Betroffene arbeitete viele Jahre als Busfahrer. Doch wegen seiner angeschlagenen Gesundheit konnte er nicht mehr im Fahrdienst tätig sein und war beschäftigt mit anderen Tätigkeiten, zum Beispiel am Computer.

Vier Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Fahrdienst erlitt er einen Unfall mit dem Fahrrad auf dem Arbeitswege. Die Berufsgenossenschaft erkannte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit und die Rentenversicherung bestätigte ihm auf seinen Antrag einen teilweise Erwerbsminderung.

Die teilweise Erwerbsminderung reicht ihm nicht

Er bezog drei Jahre eine befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, doch dies hielt er für unzureichend, denn er meinte, seine Leistung sei derart gemindert und seine Beschwerden seien so massiv, dass ihm eine volle Erwerbsminderungsrente zustünde.

Er legte Widerspruch bei der Rentenversicherung ein, und nachdem die Kasse den Widerspruch als unbegründet abgelehnt hatte, klagte er vor dem Sozialgericht Berlin.

Das Gutachten erkennt nur eine teilweise Erwerbsminderung

Das Sozialgericht beauftragte jetzt einen Gutachter, der die Gesundheit des ehemaligen Busfahrers untersuchte. Dieser Arzt erkannte erstens Wirbelfrakturen und zweitens eine depressive Störung, also körperliche wie psychische Einschränkungen.

Das tägliche Leistungsvermögen schätzte der Mediziner auf drei bis unter sechs Stunden ein. Dies entspricht der Definition einer teilweisen Erwerbsminderung und damit dem Anspruch auf eine teilweise Erwerbsminderungsrente. Für eine volle Erwerbsminderung muss hingegen eine tägliche Leistungsfähigkeit von weniger als drei Stunden vorliegen.

Der Arzt wies außerdem darauf hin, dass eine Psychotherapie womöglich die Arbeitsfähigkeit wiederherstellen könnte.

Ungewöhnliches Urteil

Obwohl das ärztliche Gutachten also nur eine teilweise Erwerbsminderung erkannte, sprach das Sozialgericht Berlin dem Betroffenen den Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente zu, begrenzt auf die Zeit vom 1. Januar 2023 bis zum 30. April 2024.

Als Begründung nannte das Gericht die falsche Einschätzung seiner Arbeitsfähigkeit durch den Betroffenen selbst. Diese psychische Fehlvorstellung, überhaupt nicht mehr arbeiten zu können, habe einen eigenen Krankheitswert.

Zwar sei sein tatsächliches Leistungsvermögen nicht auf unter drei Stunden pro Tag gesunken, doch seine falsche Vorstellung, nichts leisten zu können, hindere ihn daran, auch leichte Tätigkeiten auszuüben. Um sich von dieser Vorstellung zu lösen, bräuchte er ärztliche wie therapeutische Hilfe.

Weil eine Verbesserung und damit eine Wiederherstellung der Arbeitskraft durch eine Psychotherapie möglich sei, wurde die volle Erwerbsminderungsrente befristet.

Subjektive Wahrnehmung führt zu objektiver Leistungsminderung

Fehleinschätzungen können selbst Krankheitswert haben und zu einer tatsächlichen Erwerbsminderung führen, das ist die Lehre aus diesem Urteil. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass Sie grundsätzlich eine volle Erwerbsminderung durchsetzen können, weil Sie anderer Meinung sind als die gesetzliche Rentenversicherung.

Vielmehr kam das Gericht zu dem Schluss, dass die Fehleinschätzung tatsächlich dazu führte, dass der Betroffene Arbeiten nicht mehr ausführen konnte, obwohl er diese von seiner realen Leistungsfähigkeit hätte ausführen können.

Die subjektive Wahrnehmung führte bei ihm also zu einer objektiven Erwerbsminderung.