Bürgergeld: Mit der neuen Grundsicherung kommt die fingierte Nichterreichbarkeit

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Mit der geplanten Neuregelung zur sogenannten „fingierten Nichterreichbarkeit“ soll das Versäumen von Terminen bei der Behörde künftig weitreichende Konsequenzen haben. Wer einen vom Jobcenter angesetzten Termin nicht wahrnimmt, gilt demnach gesetzlich als „nicht erreichbar“.

Diese Fiktion hätte den vollständigen Wegfall des Leistungsanspruchs zur Folge – einschließlich der Grundsicherungs-Regelleistung, der Kosten der Unterkunft und Heizung sowie der von der Behörde getragenen Beiträge zur Krankenversicherung.

Eine nachträgliche Heilung durch spätere Mitwirkung ist – anders als bei § 67 SGB I – ausdrücklich nicht vorgesehen.

Was unter „fingierter Nichterreichbarkeit“ zu verstehen ist

„Fingierte Nichterreichbarkeit“ bedeutet, dass die Verwaltung rechtlich so tut, als sei eine Person für die Durchführung der Grundsicherungsleistungen nicht erreichbar, obwohl die tatsächlichen Gründe für das Ausbleiben unbekannt oder vielfältig sein können.

Der Status entsteht allein durch das Versäumen eines Termins, etwa eines Beratungsgesprächs oder einer Mitwirkungshandlung. Er führt nicht zu einer befristeten Kürzung, sondern zum kompletten Wegfall des Anspruchs, solange die Fiktion fortbesteht.

Bruch mit dem Prinzip nachträglicher Mitwirkung

Bislang galt im Sozialverwaltungsrecht der Grundsatz, dass fehlende Mitwirkung – sofern nachgeholt – eine rückwirkende Leistungsgewährung ermöglichen kann. § 67 SGB I trägt diesem Gedanken Rechnung, indem er die Wiederherstellung des Bürgergeld-Leistungsanspruchs zulässt, wenn die versäumte Handlung später erbracht wird.

Die neue Regelung bricht mit diesem Prinzip. Wer den Termin verpasst, kann den Anspruch nicht mit Wirkung für die Vergangenheit wieder erlangen; es bleibt beim Leistungsausfall für den betreffenden Zeitraum. Das verschiebt das Risiko behördlicher Frist- und Terminsituationen vollständig auf die Leistungsberechtigten.

Verfassungsrechtlich mehr als bedenklich

Die vorgesehene Konstruktion steht in einem Spannungsverhältnis zu den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts zur Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit von Sanktionen in der Grundsicherung.

Das Urteil vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16) hat hohe Anforderungen an Grundrechtseingriffe formuliert, insbesondere an die Wahrung des menschenwürdigen Existenzminimums, an Härtefallklauseln und an die Möglichkeit, Sanktionen zu beenden.

Kritiker wie der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt sehen in der fingierten Nichterreichbarkeit den Versuch, die damaligen Leitplanken faktisch zu unterlaufen, indem keine stufenweise Kürzung, sondern ein Totalentzug vorgesehen ist und die nachträgliche Heilung ausgeschlossen wird.

Verfassungsrechtlich stellt sich damit vor allem die Frage, ob ein vollständiger Wegfall existenzsichernder Leistungen ohne wirksame Härtefallprüfung und ohne rückwirkende Heilungsmöglichkeit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sowie dem Sozialstaatsprinzip standhält.

Praktische Folgen: Von Miete bis Krankenversicherung

Die unmittelbaren Folgen eines Status als „nicht erreichbar“ wären einschneidend. Ohne Regelleistung fehlen Mittel für den Lebensunterhalt. Ohne Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung drohen Mietrückstände und Kündigungen, insbesondere bei ohnehin knappen Budgets.

Besonders heikel ist die Frage der Absicherung im Krankheitsfall: Zwar besteht in Deutschland eine Versicherungspflicht; dennoch werden in der Grundsicherung normalerweise die Beiträge für gesetzlich oder privat Versicherte übernommen.

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Fällt diese Übernahme weg, entstehen Beitragsschulden oder es greift in der privaten Krankenversicherung ein Notlagentarif.

De facto entstehen Versorgungslücken, bürokratische Hürden und Schuldenrisiken, selbst wenn die formale Mitgliedschaft fortbesteht. Die pauschale Politikformel, niemand werde obdachlos gemacht, hält einer realistischen Betrachtung unter diesen Rahmenbedingungen nicht stand.

Wer besonders gefährdet ist

Die Regelung träfe vor allem Leistungsberechtigte, die ohnehin Schwierigkeiten mit Behördenkontakten haben. Dazu zählen Menschen mit akuten oder chronischen Erkrankungen, psychischen Belastungen, Angststörungen oder Suchterkrankungen, Menschen mit Behinderungen, Personen ohne festen Wohnsitz, Menschen in instabilen Lebenslagen sowie solche mit Sprach- und Bildungsbarrieren.

Auch Alleinerziehende mit Betreuungsengpässen, Schichtarbeitende in prekären Beschäftigungsverhältnissen und Personen ohne digitale Erreichbarkeit laufen Gefahr, Termine zu versäumen. Für sie kann bereits ein verpasster Brief, eine fehlerhafte Zustellung oder ein kurzfristiger Kliniktermin die Existenz absägen.

Verwaltungsrealität: Zustellung, Dokumentation, Fehlerquellen

Die Praxis der Leistungsverwaltung ist fehleranfällig. Zustellungsprobleme, Adresswechsel, geteilte Briefkästen, Übermittlungsfehler oder unklare Rechtsfolgenbelehrungen sind keine Seltenheit.

Wird Nichterreichbarkeit fingiert, obwohl die Person objektiv erreichbar wäre, kehrt sich die Beweislast faktisch um.

Ohne rückwirkende Heilung verschärft sich der Druck, jeden Fehler aufseiten der Verwaltung oder Postzustellung durch gerichtliche Eilrechtsschutzverfahren korrigieren zu lassen – ein Weg, der Zeit, Kenntnisse und Stabilität voraussetzt, die gerade besonders vulnerable Gruppen oft nicht aufbringen können.

Von „Fördern und Fordern“ hin zu einer sanktionszentrierten Steuerung

Anhalt sieht darin eine Verschiebung vom Prinzip „Fördern und Fordern“ hin zu einer sanktionszentrierten Steuerung, deren Hauptwirkung in Abschreckung und Aussteuerung besteht. Der öffentlich geäußerte Satz, niemand werde obdachlos gemacht, gerät vor diesem Hintergrund unter Rechtfertigungsdruck. “Denn der gesetzlich angeordnete Totalausfall existenzsichernder Leistungen kann – selbst wenn er formal befristet ist – faktisch Obdachlosigkeit, Verschuldung und Gesundheitsrisiken befördern”, so Anhalt.

Rechtschutzmöglichkeiten und offene Fragen

Gegen belastende Verwaltungsakte stehen Widerspruch und Klage zum Sozialgericht offen; bei existenzieller Betroffenheit kommt einstweiliger Rechtsschutz in Betracht.

Ob diese Instrumente das verfassungsrechtliche Gebot wirksamen Rechtsschutzes erfüllen, wenn rückwirkende Heilung ausgeschlossen ist, bleibt eine zentrale Streitfrage.

Von entscheidender Bedeutung wären zudem praxistaugliche Härtefallregelungen, klare Anforderungen an die Rechtsfolgenbelehrung, nachweisbare Erreichbarkeitsversuche, großzügige Entschuldigungsgründe sowie eine frühzeitige aufsuchende Sozialarbeit, um unverschuldete Versäumnisse zu vermeiden.

Fazit: Hohe Risiken für das Existenzminimum

Die fingierte Nichterreichbarkeit markiert einen Paradigmenwechsel: Aus einem an Mitwirkung geknüpften, aber heilbaren Leistungsverhältnis wird ein System, in dem ein verpasster Termin zum abrupten Ende der Existenzsicherung führt. Verfassungsrechtlich steht das Vorhaben auf wackeligen Beinen, sozialpolitisch droht eine Verschärfung von Armutslagen. Besonders die Schwächsten würden die Hauptlast tragen.

Soll die Grundsicherung ihrem Namen gerecht werden, braucht es präzise definierte, verhältnismäßige und heilbare Instrumente – keine Automatismen, die das Existenzminimum auf bloßen Verdacht hin entziehen.