Propagandaphrase im Dienste von Hartz IV

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„Deutschland“ – ein Rauswurf-Begriff: Zu einer bestimmten Propagandaphrase im Dienste von Hartz-IV von Holdger Platta

23.03.2013

Manchmal, so scheint mir, muß man heute bereits Klitzekleinigkeiten aufgreifen, um Ungeheures zu zeigen, Bagatellen, die deshalb so furchtbar sind, weil sie zwar einerseits ganz leise daherkommen und ihre Bösartigkeit eher verstecken, zum anderen aber diese Bösartigkeit, die im Großen & Ganzen die Herrschaft anzutreten beginnt, im vollen Maße auch signalisieren. Sie wären dann Nebensächlichkeiten, die von einer Hauptsache erzählen. Wovon ich spreche?

Nun, vor zwei, drei Tagen stieß ich in der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA)“ unter der an jedem Samstag erscheinenden Rubrik „Gewinner und Verlierer der Woche“ auf die folgende Lobhudelei. Es ging um Gerhard Schröder, einen der drei „Gewinner“ der vergangenen Woche, wie die HNA uns LeserInnen verriet:

"Gerhardt Schröder. Bejubelt wegen Agenda
Da wird ein Redner von der SPD-Bundesfraktion bejubelt. Aber es ist nicht Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, nein, es ist Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Und der Schwerpunkt seines Besuchs liegt ausgerechnet auf jenem Thema, das Schröder vor zehn Jahren viele Gegner aus den eigenen Reihen bescherte – die Agenda 2010. Deutschland geht es gut, auch wenn es nicht allen Deutschen gut geht. Die da jubelten, dachten an Deutschland.“

Ich weiß, im folgenden Text werde ich bei manchen Lesern den Eindruck erwecken, es handele sich um nichts anderes als um linken Alarmismus. Dieser Eindruck wird also mitzureflektieren sein. Aber zunächst muß der alarmierende Begriff fallen, bevor die entsprechende Analyse – vielleicht – den Nachweis zu liefern vermag. Hier also der skandalisierende – und gegebenenfalls zu skandalisierende? – Satz:

Ich halte das Denken, das sich in den letzten beiden Sätzen dieser Mini-Lobrede ausdrückt, für Rückkehr zu einer bestimmten Variante des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik (und der Nachfolgezeit), ich halte dieses Denken für Rückfall in eine ideologische Denkweise in genau jenem Sinne, wie sieder Politologe Kurt Sontheimer im Jahre 1968 in seinem Buch „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ aufs detaillierteste untersucht hat. – „Antidemokratisches Denken“? Wie bitte? Kleiner geht’s nicht? Nein, kleiner geht es meiner Meinung nach nicht! Ich behaupte:

In dieser HNA-Aussage eines „cst“ feiert ein Denken Wiederauferstehung, das in der faschistischen Ideologie als Volksgemeinschaftsdenken eine zentrale Rolle gespielt hat, ein ethnozentristisches „Wir“-Gefühl, das vor allem auf einem beruhte (und offenbar schon wieder beruht): nicht auf Interessensgleichheit und Solidarität der „Volksgenossen“ untereinander (das zu behaupten wäre blanke Ideologie), sondern auf Ausschluß aller, die nicht mehr zu dieser „Volksgemeinschaft“ gehören sollen! Damals, im Dritten Reich, waren es vor allem die Juden, darüberhinaus Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Menschenrechtsliberale, Christen, Behinderte und Homosexuelle, heute – ich erläutere das gleich am Beispiel der von mir aufgegriffenen Sätze – sind es vor allem die Zwangsarbeitslosen, Aufstocker und Armutsrentner. Wie komme ich zu diesem, ich weiß, ungeheuerlichen Befund?

Nun, eigentlich liegt die Sache klar auf der Hand: der Autor dieser HNA-Eloge macht einen Unterschied zwischen einer unbekannten Anzahl von Deutschen, denen es „nicht gut geht“, und „Deutschland“ als ganzem. „Deutschland“, so die zentrale Aussage, habe von der Agenda 2010 profitiert, da zählen die anderen (die in der Tat ungezählt bleiben!) nicht, und diese Hartz-IV-Opfer zählen offenkundig bei diesem „Deutschland“-Verständnis auch nicht mehr dazu. Die Hartz-IV-Betroffenen werden expressis verbis aus diesem „Deutschland“ rausformuliert und fristen nur noch im Dunkel des Halbsatzes „auch wenn es nicht allen Deutschen gut geht“ ihre verschattete Existenz. Das ist – immerhin – von differenzierender Ehrlichkeit. Das ist aber auch Ausstoßung der Agenda-Betroffenen aus dem „Deutschland“-Begriff der HNA. Deutschland – diese kleine Zeitungs-Lobhudelei auf Schröder macht es deutlich -, das ist nur noch das Deutschland der Gewinner, ein Leistungsträger-Deutschland. Und das sage nicht ich, das sagt dieser Text!

Eine Bagatelle, ich weiß, und ich wiederhole diese Feststellung gerne nochmal. Jedoch eine Kleinigkeit, der wir – in sonstigen Medienbeiträgen und Politikerreden – nahezu flächendeckend und nahezu täglich begegnen, womit sie auch aufhört, eine Kleinigkeit zu sein: „Deutschland geht es gut“, „uns geht es gut“, auf diese beiden Sätze stößt, wer sie angoogelt, im Internet gleich zighundertausendfach. Textvariante eins – „Deutschland geht es gut“ – fand ich am vergangenen Sonntag, den 17. März 2013, gleich 333.000mal im Internet, und Textvariante zwei – „uns geht es gut“ – bot mir der Suchdienst gleich über eine Million Mal an (= 1.130.000). Und wer trug vor allem zu diesem Millionenfund bei? Nun, zum einen die Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Neujahrsansprache zum Jahreswechsel 2011/12 und zum anderen ihr Vizekanzler Philipp Rösler auf dem diesjährigen Drei-Königs-Treff. Heißt: diese Rauswurf-Agitation kommt von ganz oben her – der HNA-Journalist hat also nur nachgebetet, was das Predigerpersonal an der Staatsspitze so von sich gibt -, und diese Phrase füttert bereits seit einiger Zeit die Propaganda unseres Führungspersonals. Mit Konsequenz und Kanzlerinnensegen quatscht man also sämtliche MitbürgerInnen weg, denen es nicht gut geht, und schmeißt sämtliche Opfer der Krise und Hartz-IV-Politik mithilfe dieser verbalen Totalnegation aus der eigenen „Deutschland“- und „Wir“-Definition raus. Ausschluß, nicht „Inklusion“ ist der Inhalt dieser Agitation, Totalausgrenzung von Opfern aus der Gemeinschaft aller stellen diese Statements dar! Oder irre ich mich? Wird hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen? Sind nicht diese Glücksverlogenheiten -„Deutschland“ beziehungsweise „uns geht es gut“ – zu kritisieren, sondern zu kritisieren sind meine Aussagen über dieses Wegdefinieren von Menschen?

Nun, ich meine, diese These vom rhetorischen Totalrauswurf der betroffenen Menschen aus dem analysierten „Deutschland“- und „Wir“-Begriff findet seinen Beleg in der Realität, im Totalrauswurf der betroffenen Menschen aus dem realen Leben in dieser Republik. Was da in der HNA-Lobhudelei auf Schröder – immerhin! – noch angetippt worden (freilich: mehr als zaghafte Antipperei war es nicht), die Tatsache nämlich, daß diese Agenda-Politik Opfer gefordert hat, dieses Elend fördert ein vorbehaltloser Blick auf die Lebenssituation der Wegdefinierten aufs deutlichste zutage: den Zwangsarbeitslosen, Aufstockern, Armutsrentnern in unserer Republik geht es nicht nur irgendwie und ganz allgemein schlecht, nein, schlecht geht es ihnen zusätzlich im ganz präzisen Wortsinn dieser Rauswurfs-Ideologie: Beteiligungsmöglichkeiten am sozialen, politischen, kulturellen Leben in unserem Land – für alle diese Menschen durchweg Fehlanzeige. Aktive Partei- oder Gewerkschaftsmitgliedschaften, aktive Mitgliedschaften in Vereinen, Besuche von Vorträgen, Theater, Konzerten, Teilnahme an Demos, die nicht um die Hausecke stattfinden (also Fahrkosten bedeuten) – alles unmöglich! Die Opfer müssen draußen bleiben. Und dieses, obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010 all diese Teilhabemöglichkeiten zum xten Male als Mindeststandards eines menschenwürdigen Existenzminimums den Politikern ins Stammbuch geschrieben hat. Kurz: mit diesem „Deutschland“-Verständnis verabschieden sich die Merkels und Röslers von der verfassungsrechtlich unaufhebbaren Sozialstaatsverpflichtung.

Was in dieser „Deutschland“- und „Wir“-Phraseologie ausgesprochen wird, der Rauswurf der Zwangsarbeitslosen, Aufstocker und Armutsrentner aus der Gesellschaft, das ist nicht nur verbale Ungeheuerlichkeit, das ist vor allem ungeheuerliche Realität. Das ist Realität, die mit Demokratie nichts mehr zu tun hat, mit der „Volksgemeinschafts“-Ideologie des Dritten Reiches aber bereits sehr viel. Selbstverständlich: der Zwangsausschluß der Menschen damals wurde mit Verboten durchgesetzt, heute geschieht das durch Geldentzug. Im Denken wie im Effekt gibt es jedoch keinen Unterschied. „Deutschland“ und „Wir“ stellen in dieser Propaganda Rauswurf-Vokabeln dar, welche heute wie damals dieselbe Realität beschwören.

Und das Zusätzlich-Bestürzende ist, daß nicht nur Politiker sich dieser Rhetorik bedienen, sondern daß diese Rhetorik mittlerweile auch tief eingedrungen ist in die Mediensprache der Bundesrepublik. Nicht nur „die da oben“ reden so, auch Journalisten ziemlich weit unten tun dieses inzwischen. Dabei hat diese Art des Redens, Schreibens und Denkens die Phase seiner propagandistischen Rechtfertigungen bereits weit hinter sich gelassen. Diese Art des Reden, Schreibens und Denkens gehört seit längerem schon zum Sedimentgestein unserer verhärteten Ideologien. Man kann sich fragen, was schlimmer ist: Wiedergängerei einer antidemokratischen Denkweise, die hetzt, aber aufs Hetzen noch angewiesen ist, oder ein menschenverachtender, die Existenz vieler unglücklicher Menschen negierender, „Deutschland“- und „Wir“-Begriff, der bereits im Stadium völliger Selbstverständlichkeit aufs Paper g3ebracht wird und die Talkshows und Reden in dieser Republik vergiftet.

Dabei sei aufs deutlichste angemerkt: Diese undemokratische Ausgrenzungsphraseologie muß dem Selbstverständnis der betreffenden Journalisten und Politiker überhaupt nicht entsprechen! Der furchtbare Satz „Deutschland geht es gut“ mit seinem Wegdrängen des Leids von Millionen von Menschen scheint prima vereinbar zu sein mit einem ansonsten exzellenten Demokratiebewußtsein. Denn mit solchen Sätzen, aus denen man jegliches Mitleid vertrieben hat, ist zwar hochfragwürdiges Denken im Kopf der betreffenden Propagandisten angekommen und damit zum Bestandteil ihres Bewusstseins geworden, aber dieser Bestandteil im Bewusstsein der Hartz-IV-Agitatoren dürfte nur
Bruchteil ihres Bewusstseins insgesamt sein. Ansonsten – außerhalb dieses Denkens und Sprechens, außerhalb dieser Ausgrenzungsideologie – sind dieselben Menschen zumindest noch Formaldemokraten durch und durch. Konkret:

Diesen Satz – „Deutschland geht es gut“ – zu denken und zu schreiben (und dementsprechend Welt zu sehen und zu empfinden), das kann nach wie vor problemlos einhergehen mit Ablehnung von jedweder Diktatur und Befürwortung der Demokratie sonst. Das kann einhergehen mit Bejahung von Parlamentarismus und Gewaltenteilung, problemlos einhergehen mit Verteidigung des Rechtsstaates in allen anderen Bereichen dieser Republik. Mit bitterer Ironie formuliert: ich vermute, die HNA-Eloge auf Schröder hat ein wahrer Demokrat zu Papier gebracht, derartiger Sozialrassismus – wie Alfred Grosser, der deutsch-französische Politologe, dieses Abwertungsdenken gekennzeichnet hat – ist demokratie-kompatibel. Womit sich aber erneut die Frage stellt: ist das nun besser oder schlimmer als die alte Variante der Volksgemeinschaftsideologie? Was ist heutzutage mehr zu befürchten, was als verheerender anzusehen – ein Sozialrassismus, der sich mit Gebrüll und Schlägertrupps zu etablieren versucht, oder Sozialrassismus, der sich sanft und allmählich in die Köpfe der Menschen schleicht, gutbürgerlich in seinen Manieren, verbreitet in der Gestalt gutbürgerlicher Medienarbeit? Ich befürchte, diese Fragen haben es in sich. Deren Beantwortung könnte bedeuten, daß es zwar richtig ist, eine NSU zu bekämpfen, daß es aber noch wichtiger ist, gegen diese getarnten Neovarianten alter Ideologien vorzugehen. Vielleicht legt altes Aussonderungsdenken inzwischen ja ein ausgesprochen gutes Benehmen an den Tag? Vielleicht ist ja heutige Menschenverachtung nicht mehr brutal, sondern kommt äußerst gepflegt daher? Mein Fazit jedenfalls lautet:

Wenn Begriffe wie „Deutschland“ und „Wir“ zu Rauswurf-Begriffen werden, stellt das keine Petitesse mehr dar, sondern ist von äußerster Bösartigkeit. Es ist Menschenausgrenzung, die sich sehr leise vollzieht und gerade deshalb so effektiv funktioniert. Mir scheint, wir sollten mit geschärfter Aufmerksamkeit hineinhören in diese Welt der „Nebensächlichkeiten“.

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