Pflegegrad, Sozialhilfe, leeres Konto: Hilfe zur Pflege verschlingt Pflegegeld

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Pflegebedรผrftige, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, erleben oft ein bรถses Erwachen: Auf dem Papier gibt es Pflegegeld, in der Praxis bleibt davon so gut wie nichts รผbrig. Der Grund liegt in einem komplizierten Zusammenspiel zwischen Pflegeversicherung und Sozialhilferecht โ€“ und in Berechnungsregeln, die vielen Betroffenen gar nicht erklรคrt werden.

Pflegegeld und Hilfe zur Pflege: Zwei Systeme mit unterschiedlichen Logiken

Pflegegeld wird von der Pflegekasse nach dem Pflegeversicherungsgesetz gezahlt. Es richtet sich nach dem Pflegegrad und soll ermรถglichen, dass Angehรถrige oder andere nahestehende Personen die Pflege zu Hause รผbernehmen. Juristisch handelt es sich um eine zweckgebundene Leistung zur Sicherstellung der Pflege.

Hilfe zur Pflege gehรถrt dagegen zur Sozialhilfe nach dem Zwรถlften Buch Sozialgesetzbuch. Sie springt ein, wenn pflegebedingte Kosten nicht aus eigenem Einkommen, Vermรถgen und Leistungen der Pflegeversicherung gedeckt werden kรถnnen. Sozialhilfe ist damit immer nachrangig. Erst wenn alle vorrangigen Mittel eingesetzt sind, darf der Sozialhilfetrรคger zahlen.

Genau an dieser Schnittstelle entsteht der Widerspruch, der fรผr Betroffene so unverstรคndlich wirkt: Einerseits ist das Pflegegeld โ€žanrechnungsfreiโ€œ, andererseits wird es bei der Berechnung der Hilfe zur Pflege trotzdem voll verwertet.

Pflegegeld als Einkommen geschรผtzt โ€“ und trotzdem im System โ€žverbrauchtโ€œ

Fรผr die meisten Sozialleistungen gilt: Leistungen der Pflegeversicherung werden nicht als Einkommen angerechnet. Wer Pflegegeld erhรคlt, muss deshalb grundsรคtzlich keine Kรผrzung bei Grundsicherung im Alter, Erwerbsminderungsrente mit Grundsicherung oder Hilfe zum Lebensunterhalt fรผrchten. Das Pflegegeld kommt zusรคtzlich zum Regelsatz hinzu.

Ganz anders sieht es aus, wenn Hilfe zur Pflege gewรคhrt wird. Hier prรผft das Sozialamt zunรคchst den gesamten pflegebedingten Bedarf. Dazu zรคhlen etwa die Kosten eines Pflegedienstes, notwendige Hilfsmittel oder Aufwendungen fรผr Nachtbetreuung.

Von diesem Bedarf werden dann alle vorrangigen Leistungen abgezogen, besonders die Zahlungen der Pflegekasse. Was รผbrig bleibt, รผbernimmt die Sozialhilfe.

In der Praxis bedeutet das: Pflegegeld ist zwar kein โ€žanzurechnendes Einkommenโ€œ, mindert aber den Bedarf in der Hilfe zur Pflege. Fรผr Betroffene macht das kaum einen Unterschied โ€“ letztlich bleibt vom Pflegegeld hรคufig nichts zusรคtzlich รผbrig.

Rechenbeispiel: Pflegegrad, niedrige Rente und Hilfe zur Pflege

Eine 78-jรคhrige Frau hat Pflegegrad 3 und lebt allein in einer Mietwohnung. Sie erhรคlt eine kleine Altersrente von 900 Euro und Pflegegeld der Pflegekasse. Weil sie zusรคtzlich einen ambulanten Pflegedienst braucht und ihre Rente fรผr Miete, Lebensunterhalt und Pflege nicht reicht, wird Hilfe zur Pflege beantragt.

Das Sozialamt ermittelt zunรคchst, wie hoch die pflegebedingten Aufwendungen insgesamt sind. Dann werden die Leistungen der Pflegekasse โ€“ also Pflegegeld oder Pflegesachleistung beziehungsweise eine Kombination โ€“ vollstรคndig vom Bedarf abgezogen. Erst der verbleibende Rest wird als Hilfe zur Pflege รผbernommen. Im Ergebnis steht auf dem Bescheid zwar ein Pflegegeldbetrag, in der tatsรคchlichen Monatskasse der Frau taucht er aber kaum oder gar nicht auf, weil er rechnerisch schon zur Deckung des Pflegebedarfs eingesetzt wurde.

Subjektiv fรผhlt es sich so an, als ob das Pflegegeld โ€žwegโ€œ ist, seitdem das Sozialamt im Spiel ist. Objektiv ist das sogar richtig: Es wird vollstรคndig in die Finanzierung der Pflege eingerechnet.

Stationรคre Pflege: Wenn das Pflegegeld ganz verschwindet

Besonders drastisch ist der Effekt beim Umzug in ein Pflegeheim. Mit dem Wechsel in die vollstationรคre Pflege ruht das Pflegegeld der Pflegekasse. Stattdessen zahlt die Pflegeversicherung einen Anteil der Heimkosten direkt an die Einrichtung. Reicht das eigene Einkommen nicht aus, รผbernimmt die Sozialhilfe als Hilfe zur Pflege die ungedeckten Restkosten.

Die pflegebedรผrftige Person erhรคlt dann nur noch einen sogenannten Barbetrag zur persรถnlichen Verfรผgung, also eine Art Taschengeld fรผr kleinere Anschaffungen. Das frรผhere Pflegegeld, das zuvor im hรคuslichen Umfeld die Angehรถrigenpflege gestรผtzt hat, existiert im Heimbetrieb nicht mehr. Wer auf Sozialhilfe angewiesen ist, verliert damit einen wesentlichen Gestaltungsspielraum, den er vorher mit eigenem Pflegegeld hatte.

Sozialhilferechtliches Pflegegeld: Restbetrรคge statt echter Entlastung

Neben dem Pflegegeld der Pflegekasse kennt auch die Sozialhilfe ein eigenes Pflegegeld fรผr hรคusliche Pflege. Es wird gewรคhrt, wenn keine oder nur eingeschrรคnkt Leistungen aus der Pflegeversicherung flieรŸen, die Pflege aber trotzdem zu Hause sichergestellt werden soll. Die Betrรคge orientieren sich an den Leistungen der Pflegeversicherung, sind aber an Bedรผrftigkeit und Mitteleinsatz gebunden.

Sobald das Sozialamt zusรคtzlich Sachleistungen finanziert, etwa einen Pflegedienst oder teilstationรคre Angebote, wird dieses sozialhilferechtliche Pflegegeld hรคufig spรผrbar gekรผrzt. In vielen Konstellationen bleibt nur ein Drittel als sogenanntes Restpflegegeld รผbrig.

Auf dem Bescheid steht dann zwar weiterhin โ€žPflegegeldโ€œ, tatsรคchlich handelt es sich eher um einen kleinen Anerkennungsbetrag, wรคhrend der Lรถwenanteil des Bedarfs direkt รผber Sachleistungen abgewickelt wird.

Gerade hier fรผhlen sich Betroffene getรคuscht, weil sie zunรคchst mit einem hรถheren Pflegegeld gerechnet haben und erst spรคter merken, dass es durch die Kombination mit anderen Leistungen massiv zusammenschrumpft.

Pflegende Angehรถrige: Pflegegeld darf nicht zur Falle werden

Was passiert mit dem Pflegegeld, wenn es an pflegende Angehรถrige weitergegeben wird? Die Pflegeperson โ€“ oft Tochter, Sohn oder Ehepartner โ€“ steckt nicht selten eigene Erwerbsmรถglichkeiten zurรผck, um die Pflege zu ermรถglichen. Das weitergeleitete Pflegegeld ist rechtlich als Aufwandsentschรคdigung fรผr diese nicht erwerbsmรครŸige Pflege gedacht.

Fachliche Empfehlungen sehen vor, dass dieses weitergegebene Pflegegeld bei der pflegenden Person nicht als Einkommen berรผcksichtigt werden soll, wenn sie selbst Sozialleistungen erhรคlt. In der Praxis kommt es jedoch immer wieder vor, dass Jobcenter oder Sozialรคmter den Betrag trotzdem als anrechenbares Einkommen behandeln und entsprechende Kรผrzungen vornehmen.

Ein typisches Beispiel: Eine arbeitslose Tochter pflegt ihre Mutter mit Pflegegrad und bekommt von ihr das Pflegegeld weitergeleitet. Die Tochter bezieht Bรผrgergeld oder Hilfe zum Lebensunterhalt.

Das Jobcenter rechnet das Pflegegeld als zusรคtzliches Einkommen an und kรผrzt die Leistungen. In vielen Fรคllen ist das fehlerhaft und kann รผber Widerspruch oder Klage korrigiert werden. Entscheidend ist, dass die Pflege nicht als โ€žgewerblichโ€œ angesehen wird, sondern als familiรคre, nicht erwerbsmรครŸige Unterstรผtzung.

Zweckbindung des Pflegegeldes: Spielraum ja, aber nicht grenzenlos

Pflegegeld ist zweckgebunden fรผr die Sicherstellung der Pflege. Die Pflegebedรผrftigen haben grundsรคtzlich einen Gestaltungsspielraum, wie sie das Geld einsetzen. Es kann etwa die Aufwandsentschรคdigung fรผr Angehรถrige finanzieren, niederschwellige Hilfen ermรถglichen oder ergรคnzend zur Unterstรผtzung durch einen Pflegedienst dienen.

Wird das Pflegegeld aber รผber lรคngere Zeit offensichtlich nicht fรผr Pflegeleistungen verwendet, kann das Sozialamt argumentieren, dass insoweit kein pflegebedingter Bedarf besteht. Die Behรถrde kann dann die Hilfe zur Pflege entsprechend kรผrzen oder neu berechnen.

Streitfรคlle entstehen beispielsweise dann, wenn Pflegegeld stattdessen zur Deckung von Mietrรผckstรคnden, Haushaltsanschaffungen oder anderen Kosten eingesetzt wird, die das Sozialamt selbst als โ€žnicht pflegebezogenโ€œ einstuft.

Einkommens- und Vermรถgensgrenzen: Wenn Hilfe zur Pflege am Schonvermรถgen scheitert

Dass Pflegegeld formal geschรผtzt ist, heiรŸt nicht, dass die Hilfe zur Pflege automatisch bewilligt wird. Die Sozialhilfe prรผft immer auch Einkommen und Vermรถgen. Werden bestimmte Freibetrรคge รผberschritten, mรผssen eigene Mittel zunรคchst eingesetzt werden, bevor die Hilfe zur Pflege greift.

Gerade bei รคlteren Menschen mit bescheidenem, aber vorhandenem Vermรถgen fรผhrt das dazu, dass sie zwar Pflegegeld erhalten, die Sozialhilfe aber lange Zeit nur teilweise oder gar nicht einsetzt. Auch hier gilt: Das Pflegegeld ist auf dem Konto sichtbar, wird aber faktisch zur Deckung des Pflegebedarfs verbraucht, weil weitere รถffentliche Hilfe erst deutlich spรคter einsetzt.

Versteckte Nachteile und typische Fallstricke

Die offiziellen Slogans, dass Pflegegeld anrechnungsfrei sei, stimmen nur zur Hรคlfte. Im Bereich der Hilfe zur Pflege wird das Geld nahezu vollstรคndig in die Bedarfsberechnung eingezogen. Besonders nachteilig wirkt sich das bei folgenden Konstellationen aus:

Pflegebedรผrftige verlieren beim Wechsel ins Heim ihr Pflegegeld und haben nur noch den geringen Barbetrag zur Verfรผgung. Bei Kombination von hรคuslicher Pflege mit umfangreichen Sachleistungen schrumpft ein ursprรผnglich hรถheres Pflegegeld oft zu einem Restbetrag zusammen.

Pflegende Angehรถrige, die selbst Sozialleistungen beziehen, riskieren Kรผrzungen, wenn Behรถrden das weitergeleitete Pflegegeld fehlerhaft als Einkommen werten. Und wer รผber geringes, aber vorhandenes Vermรถgen verfรผgt, bekommt Hilfe zur Pflege hรคufig erst spรคt oder nur eingeschrรคnkt, obwohl Pflegegeld allein nicht ausreicht, um die Versorgung dauerhaft sicherzustellen.

Typische Konstellationen und ihre Folgen fรผr das Pflegegeld

Konstellation Auswirkung auf Pflegegeld und Hilfe zur Pflege
Hรคusliche Pflege mit Hilfe zur Pflege Pflegegeld wird nicht als Einkommen angerechnet, aber vollstรคndig in die Bedarfsberechnung eingestellt; zusรคtzlich bleibt oft kaum Geld รผbrig.
รœbergang in vollstationรคre Pflege mit Sozialhilfe Pflegegeld der Pflegekasse ruht, stattdessen Pflegesachleistung fรผr das Heim; der pflegebedรผrftigen Person bleibt nur der Barbetrag zur Verfรผgung.
SGB-XII-Pflegegeld plus Sachleistungen Sozialhilferechtliches Pflegegeld wird bei Hinzutritt von Sachleistungen hรคufig stark gekรผrzt; รผbrig bleibt meist nur ein Restpflegegeld.
Pflegende Angehรถrige mit Bรผrgergeld/Sozialhilfe Weitergeleitetes Pflegegeld soll als Aufwandsentschรคdigung grundsรคtzlich nicht angerechnet werden; fehlerhafte Kรผrzungen kommen aber in der Praxis vor.
Pflegebedรผrftige mit geringem, aber vorhandenem Vermรถgen Pflegegeld flieรŸt, Hilfe zur Pflege setzt wegen Vermรถgenseinsatz oft erst spรคter ein; Pflegegeld wird faktisch zur Deckung der Pflegekosten verbraucht.

FAQ: Pflegegeld und Hilfe zur Pflege โ€“ die 5 wichtigsten Fragen

1. Wird Pflegegeld auf Grundsicherung oder Sozialhilfe als Einkommen angerechnet?
Nein, Leistungen der Pflegeversicherung gelten grundsรคtzlich nicht als Einkommen und dรผrfen den Regelsatz bei Grundsicherung oder Hilfe zum Lebensunterhalt nicht mindern. In der Hilfe zur Pflege wird das Pflegegeld aber zur Deckung des Pflegebedarfs eingesetzt, sodass es dort rechnerisch โ€žverbrauchtโ€œ wird.

2. Warum habe ich trotz Pflegegeld kaum mehr Geld zur Verfรผgung, wenn das Sozialamt hilft?
Sobald Hilfe zur Pflege bewilligt wird, zieht das Sozialamt das Pflegegeld und andere Leistungen der Pflegekasse vom Gesamtpflegebedarf ab. Die Sozialhilfe รผbernimmt nur die verbleibende Lรผcke, weshalb das Pflegegeld meist nicht zusรคtzlich im Geldbeutel ankommt.

3. Was passiert mit meinem Pflegegeld, wenn ich ins Pflegeheim ziehe?
In der vollstationรคren Pflege ruht das Pflegegeld der Pflegekasse und wird durch direkte Zahlungen an das Heim ersetzt. Wer auf Sozialhilfe angewiesen ist, erhรคlt dann nur noch einen Barbetrag zur persรถnlichen Verfรผgung und hat keinen freien Zugriff mehr auf Pflegegeld.

4. Darf ich Pflegegeld an Angehรถrige weitergeben, die selbst Sozialleistungen bekommen?
Ja, die Weitergabe des Pflegegeldes an pflegende Angehรถrige ist ausdrรผcklich vorgesehen und gilt als Aufwandsentschรคdigung fรผr nicht erwerbsmรครŸige Pflege. Bei Angehรถrigen im Bรผrgergeld- oder Sozialhilfebezug soll dieser Betrag grundsรคtzlich nicht als Einkommen angerechnet werden, fehlerhafte Bescheide sollten aber unbedingt geprรผft werden.

5. Was kann ich tun, wenn mein Pflegegeld angerechnet oder โ€žweggerechnetโ€œ wurde?
In solchen Fรคllen lohnt sich eine genaue Prรผfung des Bescheids und gegebenenfalls ein fristgerechter Widerspruch. Unterstรผtzung bieten Pflegestรผtzpunkte, unabhรคngige Beratungsstellen, Sozialverbรคnde oder spezialisierte Anwรคltinnen und Anwรคlte, die die Berechnungen der Behรถrden รผberprรผfen kรถnnen.

Was Betroffene tun kรถnnen

Pflegebedรผrftige und ihre Angehรถrigen sollten Bescheide von Pflegekassen, Jobcentern und Sozialรคmtern genau prรผfen โ€“ insbesondere dann, wenn Pflegegeld plรถtzlich โ€žverschwundenโ€œ scheint oder als Einkommen angerechnet wird. Zweifel an der Berechnung sind kein Ausnahmefall, sondern eher die Regel, wenn mehrere Leistungstrรคger beteiligt sind.

Sinnvoll ist es, sich frรผhzeitig beraten zu lassen, etwa bei Pflegestรผtzpunkten, unabhรคngigen Sozialberatungsstellen, Sozialverbรคnden oder spezialisierten Anwรคltinnen und Anwรคlten. Gerade bei Hilfe zur Pflege geht es um langfristige, oft existenzielle Betrรคge. Wer hier die Systemlogik kennt und fehlerhafte Anrechnungen nicht hinnimmt, kann verhindern, dass das Pflegegeld in der Komplexitรคt der Sozialhilfe vollstรคndig untergeht.