Millionen stellen keinen Antrag auf Bürgergeld oder Grundsicherung

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Sehr viele Menschen in Deutschland leben unter dem Existenzminimum. Dennoch beantragen die Betroffenen kein Bürgergeld, aufstockende Leistungen oder Grundsicherung im Alter. Eine Studie zeigte die Hintergründe und das Ausmaß.

Verdeckte Armut – 60 Prozent der Anspruchsberechtigten stellen keinen Antrag auf Grundsicherung im Alter

In Deutschland stellen Hunderttausende keinen Antrag auf Sozialleistungen, obwohl sie einen Anspruch hätten. Unterschiedliche Studien kamen zu dem Ergebnis, dass insbesondere im Bereich der Sozialhilfe und Hartz IV bzw. Bürgergeld etwa 40 bis 60 Prozent keinen Anspruch geltend machen, obwohl sie einen Anspruch hätten. Eine ebenso hohe Quote ist auch bei der Grundsicherung im Alter zu verzeichnen, wie Auswertungen der DIW zeigten.

Verdeckte Altersarmut

Grundsicherung im Alter, darauf haben Menschen einen Anspruch, wenn ihre Rente nicht ausreicht, um das in Deutschland verbriefte Recht auf ein Existenzminimum zu erreichen. L

Laut einer Auswertung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW Berlin) wird von rund 60 Prozent der Anspruchsberechtigten eine Grundsicherung im Alter nicht in Anspruch genommen. Hochgerechnet seien dies, laut DIW, rund 625.000 anspruchsberechtigte Personen.

Zum Kreis der Personen, die ihren Anspruch nicht geltend machen, gehören laut Studie vor allem Menschen mit geringem Anspruch, Immobilieneigentümer sowie ältere und verwitwete Personen.

Vier von fünf Haushalten mit einem Anspruch von mehr als 600 Euro nehmen diesen Anspruch auf Grundsicherung auch wahr. Sinkt die Anspruchssumme, sinkt die Antragsquote.

Würden alle Berechtigten ihren Anspruch geltend machen, würde das persönliche Haushaltseinkommen um etwa 30 Prozent steigen. “Würden alle berechtigten Personen ihre Ansprüche geltend machen, lägen die Bezugsquoten etwa doppelt so hoch wie beobachtet”, schreiben die Autoren der DIW.

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Rund 50 Prozent nehmen Sozialleistungen nicht in Anspruch

Gerade beim Bürgergeld ist die Hürde sehr groß. Viele Unterlagen müssen eingereicht werden. Die komplette persönliche und finanzielle Situation muss offengelegt werden. Zahlreiche Anträge mit zum Teil komplizierten Fragen müssen beantwortet werden.

Immer wieder müssen neue Dokumente eingereicht werden, wenn sich aus den Informationen der Antragstellung neue Fragen ergeben. Vermieter werden durch Direktzahlungen involviert, direkte Angehörige überprüft.

In Deutschland wird die Nichtinanspruchnahme (non take-uprate) allein bei den SGB II Leistungen auf 43 bis 56 Prozent geschätzt.

Viele Menschen schämen sich zu sehr

In der Studie der DIW wird als häufiger Grund “Scham” genannt. Im Vergleich zu anderen Hemmnissen, wie beispielsweise zu wenig Informationen oder Transaktionskosten, gab es aber nur wenig empirische Forschung zu den Effekten der Stigmatisierung von Sozialleistungen.

Im Studienverlauf zeigte sich, dass viele Menschen fürchten, als weniger Leistungsfähig oder als “Trittbrettfahrer” wahrgenommen zu werden. Wenn die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen für andere Menschen sichtbar ist, verzichten viele deswegen auf Sozialleistungen trotz Anspruch.

Zu wenig Wissen darüber, dass Sozialleistungen bezogen werden könnten

Als weitere Gründe, warum Berechtigte Sozialleistungen nicht beantragen, werden in der Regel Informationsdefizite (Berechtigte wissen nicht, dass sie berechtigt sind oder wie sie sich bewerben können) und Transaktionskosten (die Zeit und Arbeit für die Antragstellung übersteigen die erwarteten Bezüge) angeführt.

Zu komplizierte Antragstellung

Ein weiterer Grund ist die Komplexität der Antragstellung. Viele Leistungsberechtigte scheuen die Auseinandersetzung oder wollen sich nicht dem Prozedere aussetzen und verzichten dann lieber auf Transferleistungen.

Darüber hinaus zeigt die Studie, dass die Aversion, sich mit unübersichtlichen Materialen zu beschäftigen besonders die Bedürftigsten, denen die höchsten Zuschüsse zustünden, vor einer Beantragung abhalten.

Vereinfachtes Antragsverfahren gefordert

Damit Betroffene einen Anspruch geltend machen können, bedarf es einem Antrag auf Leistungsgewährung, da es sich um eine bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherungsleistung handelt, die nicht automatisch ausgezahlt wird.

Diesen Schritt scheuen viele Menschen, da sie sich vor dem Aufwand, der damit verbunden ist, scheuen. Viele Armutsbetroffene wollen sich aber auch nicht sozial geächtet fühlen und stellen aus Scham keinen Antrag. Andere Bedürftige wissen nichts von einem Anspruch und stellen deshalb keinen Antrag.

Die Forschenden schlagen vor, das Antragsverfahren auf Grundsicherungsleistungen zu vereinfachen und die Bewilligungsdauer zu verlängern, um verdeckte Armut zu bekämpfen.