Die EU-Mindestlohnrichtlinie klingt zunächst nach dickem Brüsseler Papier – für viele Aufstockerinnen und Aufstocker in Deutschland geht es aber um sehr konkrete Fragen: Steigt der Lohn spürbar? Wird das Bürgergeld weniger?
Lohnt sich die Arbeit überhaupt noch, wenn am Ende „nur“ der Regelsatz plus ein paar Euro übrig bleibt? Und: Gibt es durch die EU-Vorgaben überhaupt Druck, den Mindestlohn stärker anzuheben als bisher?
Inhaltsverzeichnis
EU-Mindestlohnrichtlinie: Was dahintersteckt – und warum Deutschland sich nicht wegducken kann
Die EU-Mindestlohnrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, für „angemessene“ Mindestlöhne zu sorgen. Als Orientierung nennt sie zwei Werte: rund 60 Prozent des Medianlohns und 50 Prozent des Durchschnittslohns. Die Länder müssen regelmäßig prüfen und begründen, ob ihr nationaler Mindestlohn diese Größenordnungen erreicht oder nicht.
Deutschland hat zwar bereits einen gesetzlichen Mindestlohn, doch die Höhe wird politisch und von der Mindestlohnkommission ausgehandelt – und lag in der Vergangenheit teilweise deutlich unter dem, was viele Sozialverbände als „existenzsichernd“ ansehen. Die EU-Richtlinie zwingt die Bundesregierung nun, genauer hinzuschauen: Ist der Mindestlohn wirklich angemessen – oder nur das unterste zulässige Level?
Für Menschen, die Bürgergeld oder Sozialhilfe aufstocken, ist dieser Streit nicht abstrakt. Jede Erhöhung des Mindestlohns verändert das Zusammenspiel von Lohn, Freibeträgen und Leistungen nach SGB II und SGB XII.
Aufstocker mit Bürgergeld: Wie der Mindestlohn in die Berechnung hineinspielt
Wer mit seinem Erwerbseinkommen den Lebensunterhalt nicht decken kann, bekommt Bürgergeld als ergänzende Leistung. Der Lohn ist dann kein „Bonus“, sondern wird als Einkommen angerechnet – allerdings mit Freibeträgen.
Vereinfacht gilt:
Ein Teil des Bruttolohns bleibt anrechnungsfrei, der Rest mindert das Bürgergeld. Mit steigendem Lohn nimmt das Bürgergeld also ab, bis es irgendwann ganz wegfällt. Entscheidend ist die Frage: Wie viel mehr netto bleibt vom höheren Lohn übrig, wenn das Jobcenter seinen Anteil wieder abzieht?
Hier macht die EU-Mindestlohnrichtlinie indirekt Druck: Wenn Deutschland den Mindestlohn deutlich anhebt, rutschen viele Aufstocker in Bereiche, in denen sich Arbeit spürbarer lohnt, weil sie stärker aus dem Bürgergeld herauswachsen. Bleibt der Mindestlohn am unteren Rand, bleibt auch die „Armutsfalle Aufstockung“ bestehen.
Typische Konstellation: Vollzeit, Teilzeit, Minijob – und dennoch Bürgergeld
Gerade in Branchen mit niedrigen Löhnen – Pflege, Reinigung, Lager, Gastronomie, Einzelhandel – arbeiten viele Menschen in Teilzeit, Schichtmodellen oder unterbrochenen Erwerbsbiografien. Selbst bei Mindestlohn reicht das oft nicht, um Miete, Heizung und Lebensunterhalt ohne Bürgergeld zu stemmen.
Eine spürbare Erhöhung des Mindestlohns kann hier zwei Wirkungen haben, die sich widersprechen können:
Einerseits steigt das Bruttoeinkommen und damit der Betrag, der oberhalb der Freibeträge liegt und das Bürgergeld mindert. Kurzfristig fühlen sich manche Betroffene „ausgebremst“, weil ein Teil des Lohnplus direkt ins Jobcenter fließt.
Andererseits bringen höhere Mindestlöhne mittelfristig mehr Menschen über die Schwelle, ab der kein Bürgergeld mehr nötig ist. Damit sinkt der administrative Druck, die Pflicht, jeden Euro nachzuweisen, und die permanente Angst vor Rückforderungen.
Wer aus dem Leistungsbezug herauskommt, gewinnt nicht nur Geld, sondern auch Spielräume: Konten, Ersparnisse, Arbeitsplatzwechsel – all das ist dann weniger stark reglementiert.
Mehr Mindestlohn – weniger Bürgergeld: Wann sich Aufstocken endlich „auswächst“
Für viele ist die entscheidende Frage: „Ab welchem Stundenlohn komme ich bei meiner Stundenzahl aus dem Bürgergeld raus?“
Hier setzt die EU-Mindestlohnrichtlinie indirekt an. Die geforderten Referenzwerte liegen in vielen Ländern über dem Niveau, das Deutschland lange Zeit als akzeptabel angesehen hat.
Steigt der Mindestlohn deutlich, können schon wenige zusätzliche Stunden pro Woche den Unterschied machen, ob man noch im System bleibt oder nur noch „ergänzende Hilfe“ in Ausnahmefällen benötigt – etwa bei sehr hohen Mieten.
Gerade Alleinerziehende, Paare mit Kindern und Menschen mit hohen Wohnkosten profitieren überproportional von einem höheren Mindestlohn. Sobald der Lohn die Regelsätze und Mietanteile bemerkbar übersteigt, schrumpft der Bürgergeld-Anspruch – und mit ihm das Risiko, wegen jeder Veränderung sofort dem Jobcenter Rede und Antwort stehen zu müssen.
Schattenseite: Mehr anrechenbares Einkommen, kaum Plus im Portemonnaie
Es gibt allerdings eine bittere Erfahrung, die viele Aufstocker kennen: Der Lohn steigt, die Abrechnung des Jobcenters wird länger – und am Ende bleibt nur ein kleiner Betrag mehr zum Leben.
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Bescheid prüfenDas Problem liegt in der Konstruktion der Freibeträge. Ein Teil des zusätzlichen Lohns wird angerechnet, ein Teil bleibt frei. Je nachdem, in welchem Einkommensbereich man sich bewegt, kann es sein, dass von 100 Euro Bruttolohnsteigerung netto nur ein Bruchteil übrig bleibt, weil Bürgergeld und ggf. Wohngeld gekürzt werden.
Die EU-Mindestlohnrichtlinie ändert an diesen Rechenregeln zunächst nichts. Sie erhöht aber den Druck, die gesamte „Erwerbsarmutsfalle“ zu diskutieren: Wenn Löhne steigen, müssen Freibeträge und Anrechnungsvorschriften so gestaltet werden, dass Leistungsempfänger nicht das Gefühl haben, für ein paar Euro mehr Einkommen sehr viel Stress, Sanktionen und Bürokratie in Kauf nehmen zu müssen.
Sozialhilfe (SGB XII): Mindestlohn als Rettungsanker für Niedrigverdiener
Auch im Sozialhilfesystem nach SGB XII gibt es Aufstocker, hauptsächlich bei Menschen mit Erwerbsminderungsrenten, kleinen Betriebsrenten oder kleinteiligen Beschäftigungen. Ein höherer Mindestlohn hilft hier primär an zwei Stellen:
Zum einen kann ein Minijob oder eine Teilzeitbeschäftigung mit Mindestlohn künftig mehr dazu beitragen, die Lücke zwischen niedriger Rente und notwendigem Lebensunterhalt zu schließen.
Zum anderen haben Betroffene mit kleinen Jobs bei einem höheren Stundenlohn bessere Chancen, wenigstens teilweise aus der Sozialhilfe herauszukommen – oder sie reduzieren die Abhängigkeit von aufwendigen Einzelfallprüfungen und Nachweispflichten.
Auch hier gilt: Mehr Lohn bedeutet zunächst mehr anrechenbares Einkommen, die Sozialhilfe sinkt. Entscheidend ist, ob das Plus aus dem Job am Ende höher ist als die Kürzung – und ob die Verwaltungspraxis fair mit den neuen Löhnen umgeht oder versucht, jeden Cent abzuziehen.
EU-Richtlinie zwingt zur Debatte: Reicht „Mindestlohn plus Bürgergeld“ als Konzept?
Die EU-Mindestlohnrichtlinie ist kein Sozialhilfegesetz. Sie schreibt nicht, wie Jobcenter oder Sozialämter Einkommen anrechnen müssen. Sie zwingt die Staaten aber, ihre unteren Lohnsegmente genauer zu beobachten.
Für Deutschland bedeutet das: Die Politik kann sich nicht länger damit zufriedengeben, Niedriglöhne über Bürgergeld und Sozialhilfe „aufzufüllen“. Wenn ein nennenswerter Teil der Erwerbstätigen trotz Mindestlohn auf staatliche Leistungen angewiesen ist, stellt sich die Frage, ob der Mindestlohn tatsächlich „angemessen“ ist – oder ob der Staat mit Bürgergeld und Sozialhilfe verdeckt Arbeitgeber subventioniert, die zu wenig zahlen.
Für Aufstocker ist diese Diskussion zentral. Sie entscheidet darüber, ob künftig mehr Menschen aus dem System herauswachsen – oder ob sich die Situation verfestigt, dass regulär Beschäftigte mit allen Pflichten eines Arbeitsverhältnisses trotzdem dauerhaft am Bürgergeld-Tropf hängen.
Chancen und Risiken: Was Betroffene jetzt im Blick behalten sollten
Kurzfristig werden Erhöhungen des Mindestlohns vor allem in den Abrechnungen der Jobcenter und Sozialämter sichtbar: mehr Brutto, veränderte Freibeträge, geänderte Leistungsbescheide. Betroffene sollten genau prüfen, ob das Einkommen korrekt berechnet, die Freibeträge richtig berücksichtigt und die Nachweise vollständig gewürdigt werden.
Mittelfristig geht es um diese Fragen:
Wer seine Arbeitszeit erhöhen kann oder von Minijob auf Teilzeit wechselt, hat bei steigenden Mindestlöhnen bessere Chancen, aus dem Leistungsbezug herauszukommen. Gleichzeitig gilt: Nicht jeder kann einfach mehr Stunden arbeiten – gesundheitliche Gründe, Kinderbetreuung oder die Situation auf dem Arbeitsmarkt setzen Grenzen.
Die EU-Mindestlohnrichtlinie ändert die Realität nicht über Nacht. Sie gibt aber ein starkes Argument an die Hand, wenn es um politische Debatten über die Höhe des Mindestlohns, die Anpassung der Freibeträge und die Frage geht, ob Arbeit im unteren Lohnsegment wirklich vor Armut schützt.
FAQ: EU-Mindestlohnrichtlinie und Bürgergeld-Aufstocker
Wer profitiert als Bürgergeld-Aufstocker von höheren Mindestlöhnen?
Vor allem Menschen in typischen Niedriglohnjobs mit wenigen Stunden oder Teilzeit – etwa im Handel, in der Pflege, Logistik, Gastronomie oder Reinigung. Steigt der Stundenlohn deutlich, können sie schneller aus der Aufstockung herauswachsen.
Bleibt mir vom höheren Mindestlohn überhaupt mehr Geld übrig?
Ja, aber oft weniger als erwartet. Ein Teil des Lohnanstiegs wird über die Anrechnung als Einkommen vom Jobcenter wieder „aufgefressen“. Trotzdem erhöht sich in der Regel der Betrag, der tatsächlich im Portemonnaie bleibt.
Kann ich durch einen höheren Mindestlohn ganz aus dem Bürgergeld-Bezug herauskommen?
Das ist möglich, wenn Stundenlohn, Arbeitszeit und Wohnkosten zusammen reichen, um den Bedarf zu decken. Je höher der Mindestlohn, desto leichter wird dieser Schritt – besonders, wenn zusätzlich Stunden aufgestockt werden können.
Ändert die EU-Mindestlohnrichtlinie meine Berechnung beim Jobcenter sofort?
Nein. Die Richtlinie zwingt Deutschland nur, den Mindestlohn und seine Angemessenheit zu überprüfen. Die Anrechnungsregeln im SGB II bleiben zunächst unverändert, können aber politisch in den Fokus rücken.
Was sollte ich tun, wenn sich mein Lohn erhöht?
Lohnabrechnungen und aktualisierte Arbeitsverträge sofort beim Jobcenter einreichen und die neuen Bescheide genau prüfen. Wichtig ist, ob Freibeträge korrekt berücksichtigt und keine falschen Rückforderungen erhoben werden.




