Schwerbehinderung: Diese Fehler kosten beim Neufeststellungsantrag GdB und Merkzeichen

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Viele stellen den Neufeststellungsantrag, weil sich der Gesundheitszustand verschlechtert hat oder weil ein Merkzeichen fehlt, das im Alltag den entscheidenden Unterschied macht. In der Praxis scheitert das Verfahren selten an „zu wenig Krankheit“, sondern daran, dass die Akte keine verwertbaren Aussagen zur tatsächlichen Einschränkung enthält.

Gleichzeitig wird ein Punkt häufig unterschätzt: Mit dem Antrag wird nicht nur „oben drauf“ geprüft, sondern der Gesamtzustand – und damit besteht auch das Risiko, dass ein bisheriger Grad der Behinderung (GdB) oder sogar die Schwerbehinderteneigenschaft (ab GdB 50) herabgesetzt wird, wenn frühere Einschränkungen heute als geringer bewertet werden.

Was bei der Neufeststellung wirklich geprüft wird

Entscheidend ist nicht die Diagnose, sondern die Teilhabe: Was gelingt im Alltag dauerhaft nicht mehr oder nur noch unter erheblichen Schwierigkeiten? Genau darauf zielt die versorgungsmedizinische Bewertung ab. Wer im Antrag und in den Befunden ausschließlich Diagnosen aneinanderreiht, liefert der Behörde zwar medizinische Schlagworte, aber kein belastbares Funktionsbild.

Ihre Unterlagen müssen deshalb die Veränderung seit dem letzten Bescheid greifbar machen: Welche Fähigkeiten waren damals noch vorhanden, was ist heute konkret eingeschränkt, und wodurch ist diese Veränderung belegt?

Ein Neufeststellungsantrag ist besonders dann solide, wenn mindestens zwei dieser drei Punkte zusammenkommen:

Es gibt eine neue Gesundheitsstörung, die beim letzten Bescheid noch keine Rolle spielte; es liegen aktuelle fachärztliche Verlaufsberichte vor, die nicht nur Diagnosen, sondern Funktionsausfälle dokumentieren; und die Einschränkungen sind im Alltag messbar geworden, etwa durch deutlich geringere Gehstrecken, zunehmende Sturzereignisse, regelmäßigen Hilfsmittelbedarf oder den nachweisbaren Verlust bestimmter Fähigkeiten.

Wann Sie vorher bremsen sollten

Vorsicht ist sinnvoll, wenn Sie knapp an einer Schwelle hängen (typisch: GdB 50 wegen Kündigungsschutz, Zusatzurlaub oder rentenrechtlicher Planung) und Ihr „neues“ Material im Kern nur aus älteren Befunden oder pauschalen Attesten besteht.

In solchen Konstellationen kann die Neufeststellung eine Gesamtprüfung auslösen, ohne dass Sie genügend neue Substanz in der Akte haben. Häufig ist es dann klüger, zunächst gezielt aktuelle Berichte einzuholen, statt mit einer dünnen Akte eine Neubewertung zu riskieren.

Welche Unterlagen in der Praxis wirklich tragen

Sie benötigen keine Papierflut, sondern eine kleine, starke Dokumentenbasis. Am tragfähigsten sind aktuelle fachärztliche Verlaufsberichte, Reha-Entlassungsberichte, Krankenhausberichte und Stellungnahmen, in denen ausdrücklich Leistungsfähigkeit und Funktionsstatus beschrieben sind.

Hilfreich sind außerdem Nachweise über Hilfsmittel (Rollator, Rollstuhl, Orthesen), Therapieverläufe, Medikamentenumstellungen und – falls vorhanden und passend – Unterlagen, die einen Hilfebedarf im Alltag dokumentieren. Wichtig ist nicht, dass etwas „dramatisch“ klingt, sondern dass der Bericht konkrete Einschränkungen beschreibt, die sich auf Teilhabe auswirken.

Ein typischer Fehler sind Atteste, die nur Formeln enthalten wie „stark eingeschränkt“ oder „dauerhaft arbeitsunfähig“, ohne zu erklären, was das im Alltag bedeutet. Ebenso problematisch sind reine Diagnoselisten ohne Funktionsbeschreibung oder veraltete Befunde, die den aktuellen Zustand nicht abbilden.

So schreiben Sie den Antrag so, dass er auswertbar ist

Ein guter Antrag ist kurz, aber präzise, und beschreibt die Veränderung als Vorher-Nachher-Bild. Statt „mehr Schmerzen“ braucht es belastbare Angaben: Wie weit ist die Gehstrecke im Ortsverkehr, wann sind Pausen nötig, was passiert bei Treppen, wie häufig treten Stürze oder Ausfälle auf, welche Hilfsmittel werden wofür benötigt, und welche Tätigkeiten im Alltag sind ohne Hilfe nicht mehr möglich?

Wenn Ihre Ärzte das in ihren Berichten wiederfinden und bestätigen können, steigt die Chance erheblich, dass die Behörde daraus eine nachvollziehbare Bewertung ableitet.

Merkzeichen: Häufig der größere Hebel als „mehr GdB“

Viele Betroffene beantragen die Neufeststellung, obwohl das eigentliche Ziel ein Merkzeichen ist. Das kann sinnvoll sein, denn Merkzeichen eröffnen konkrete Nachteilsausgleiche. Gleichzeitig sind die Voraussetzungen – je nach Merkzeichen – eng, und Ablehnungen folgen in der Praxis oft einem Muster: Die Akte beschreibt eine Krankheit, aber nicht die daraus resultierende, dauerhafte Einschränkung in Mobilität, Orientierung oder Hilfebedarf.

Für das Merkzeichen G kommt es typischerweise darauf an, dass das Gehvermögen im öffentlichen Raum dauerhaft erheblich eingeschränkt ist. Entscheidend sind deshalb Angaben zur realen Wegstrecke im Alltag, zum Pausenbedarf, zur Treppentauglichkeit und dazu, ob und warum eine Nutzung öffentlicher Wege ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich ist.

Viele Ablehnungen begründen Behörden damit, dass „kurze Strecken“ noch möglich seien, dass Hilfsmittel nur „gelegentlich“ genutzt würden oder dass die Einschränkungen nicht ausreichend anhand konkreter Funktionsdaten belegt seien.

Bei aG und H sind die Hürden in der Regel deutlich höher. Hier scheitern Anträge besonders häufig, wenn pauschal „starke Einschränkung“ behauptet wird, aber der dauerhafte Ausnahmezustand in Mobilität oder Hilfebedarf nicht sauber dokumentiert ist.

Wer in diese Richtung beantragt, sollte sich darauf einstellen, dass sehr konkrete Nachweise zur tatsächlichen Alltagsbewältigung erwartet werden, etwa zur Notwendigkeit ständiger Unterstützung, zu sicheren Wegstrecken, zu Aufsicht/Anleitung, zu regelmäßiger Fremdhilfe bei Grundverrichtungen oder zu anhaltenden Gefährdungen (zum Beispiel durch Sturz- oder Anfallsrisiken).

Wichtig ist dabei: Ein Pflegegrad kann ein Indiz sein, ersetzt aber nicht automatisch die merkzeichenspezifischen Voraussetzungen; umgekehrt kann ein Merkzeichen auch ohne Pflegegrad möglich sein, wenn die Funktionslage entsprechend dokumentiert ist.

Tabelle: Ziel und passende Nachweise

Ziel im Neufeststellungsantrag Welche Nachweise typischerweise den Unterschied machen
GdB-Erhöhung wegen Verschlechterung Facharzt-Verlaufsbericht mit Funktionsstatus, Reha-/Krankenhausbericht, Therapieintensivierung, dokumentierte Einschränkungen (Belastbarkeit, Treppen, Greifen/Tragen), Hilfsmittel
Merkzeichen G Konkrete Alltagsdaten zur Mobilität (Wegstrecke, Pausen, Treppen), Hilfsmittelgebrauch, medizinische Bestätigung der Mobilitätseinschränkung, ggf. Sturz-/Gefährdungsdokumentation
Merkzeichen aG/H Nachweise zu außergewöhnlicher Mobilitätsbeeinträchtigung bzw. dauerhaftem Hilfebedarf: detaillierte Funktionsdarstellung, Fremdhilfe, Aufsicht/Anleitung, Gefährdungslagen, passende ärztliche Stellungnahmen
Rückwirkende Feststellung (Stichtag) Klarer Stichtag, nachvollziehbares Interesse und Befunde, die den Zustand bereits zu diesem Zeitpunkt belegen
Widerspruch gegen den Bescheid Akteneinsicht, dann gezielte Ergänzungen: fehlende Befunde nachreichen, Funktionsdaten präzisieren, behandelnde Ärzte um Stellungnahme bitten

Zwei Praxisbeispiele, die Behördenlogik „übersetzen“

Beispiel 1 (Mobilität): „Seit dem Bescheid vom … hat sich das Gehvermögen deutlich verschlechtert. Im Ortsverkehr sind nur noch kurze Wegstrecken möglich, danach sind Pausen wegen Schmerz/Luftnot erforderlich; Treppen werden nur noch mit Geländer und Unterbrechungen bewältigt.

Außer Haus wird regelmäßig ein Rollator genutzt. Die Verschlechterung ist im Facharztbericht vom … und im Reha-Bericht vom … dokumentiert. Es wird die Neufeststellung des GdB sowie die Feststellung des Merkzeichens G beantragt.“

Beispiel 2 (Gefährdung/Orientierung): „Es bestehen wiederkehrende Anfälle/Schwindelzustände mit Sturzgefahr und zeitweiser Desorientierung. Außer Haus ist eine Begleitung erforderlich, da Situationen im Straßenverkehr und in unbekannter Umgebung nicht sicher bewältigt werden können.

Häufigkeit, Verlauf und Auswirkungen sind durch den neurologischen Verlaufsbericht vom … sowie durch dokumentierte Ereignisse (Behandlungen/Notfallkontakte) nachvollziehbar belegt. Es wird eine Neufeststellung beantragt; zusätzlich wird die Feststellung des Merkzeichens geprüft, das die dauerhafte Einschränkung der sicheren Mobilität/Orientierung abbildet.“

Der entscheidende Unterschied ist jeweils derselbe: Nicht die Diagnose trägt den Antrag, sondern das nachweisbare Funktionsbild, das sich sauber in Befunden wiederfindet.

Schweigepflichtentbindung: sinnvoll steuern statt pauschal öffnen

Eine Entbindung kann das Verfahren beschleunigen, sollte aber nicht unkontrolliert „alles und jeden“ umfassen. Praktisch bewährt hat sich, die behandelnden Stellen zu benennen, die den aktuellen Verlauf dokumentieren können, und den Fokus auf die letzten Jahre zu legen.

Je breiter die Akte wird, desto größer ist die Gefahr, dass alte Einschätzungen dominieren, die den heutigen Zustand nicht mehr treffen – oder dass widersprüchliche Aussagen entstehen, die die Behörde gegen Sie auslegt.

Wenn der Bescheid nicht passt: Akteneinsicht, dann Widerspruch mit Substanz

Wenn nach Aktenlage entschieden wurde und Sie sich im Ergebnis nicht wiederfinden, ist Akteneinsicht oft der schnellste Weg zur Klärung. Sie sehen dann, welche Berichte tatsächlich vorlagen, ob aktuelle Unterlagen fehlen und welche medizinische Bewertung zugrunde gelegt wurde. Erst danach lohnt ein Widerspruch, der gezielt Lücken schließt, statt allgemein „mehr GdB“ zu fordern.

Für die Fristen gilt regelmäßig: Widerspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe. Wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlt oder fehlerhaft ist, kann im Einzelfall eine längere Frist gelten.

Zieht sich das Verfahren ohne nachvollziehbaren Grund über Monate, kann zudem eine Untätigkeitsklage als Druckmittel in Betracht kommen; die gesetzlichen Schwellen liegen typischerweise bei sechs Monaten im Antragsverfahren und drei Monaten im Widerspruchsverfahren, wobei Behörden bei umfangreichen Ermittlungen häufig „Gründe“ anführen.

Drei kurze Textbausteine zur direkten Verwendung

Akteneinsicht: „Hiermit beantrage ich Akteneinsicht in die vollständige Verfahrensakte einschließlich aller ärztlichen Stellungnahmen und der medizinischen Bewertung. Bitte teilen Sie mir mit, wie die Akteneinsicht gewährt wird, und übersenden Sie mir Kopien der entscheidungserheblichen Unterlagen.“

Fristwahrender Widerspruch: „Gegen den Bescheid vom … lege ich fristwahrend Widerspruch ein. Die Begründung reiche ich nach Akteneinsicht und nach Eingang weiterer medizinischer Unterlagen nach.“

Rückwirkende Feststellung: „Zusätzlich beantrage ich die Feststellung ab dem …, da die Voraussetzungen bereits zu diesem Zeitpunkt vorlagen und die Feststellung für einen konkreten Zweck benötigt wird. Die entsprechenden Befunde für den Zeitraum sind beigefügt.“

Quellenübersicht 

  • Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), Feststellung der Behinderung und Merkzeichen (u. a. § 152 SGB IX)
  • Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), versorgungsmedizinische Grundsätze zur GdB-Bewertung
  • Bundesportal (bund.de), Verwaltungsleistung „Behinderung neu feststellen lassen (Änderungsantrag)“
  • Sozialgerichtsgesetz (SGG), Regelungen zu Widerspruchsfristen und Untätigkeitsklage
  • Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren (u. a. § 25 SGB X)
  • Beratungsinformationen von Sozialverbänden (z. B. VdK) zur Neufeststellung und Herabstufungsrisiken