Leyen I statt Hartz IV – Ausgrenzung statt Teilhabe
Im Windschatten der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neubemessung der Hartz IV Regelsätze für Kinder und Erwachsene kommt es bei der Gesetzesnovelle zur Änderung des SGB II und XII zu einer unerwarteten und unangemessenen Verschärfung für die Empfänger, die bei der bereits schwer malträtierten Personengruppe eigentlich unverständlich ist. Dabei handelt es sich um solch gravierende Einschnitte, dass einige Experten nicht mehr von "Hartz IV" sondern von "Leyen I" sprechen. Folgende Prinzipien für soziale Grundsicherungsleistungen werden durch die neuen Regelungen gefährdet:
1. Existenzsichernde Sozialleistungen müssen sozialer Ungleichheit entgegenwirken
Gemäß Verfassungsgerichtsurteil soll ein "Grundrecht auf Existenzsicherung" umgesetzt werden, das auch menschenwürdige Teilhabe ermöglicht. In der Bilanz des Gesetzentwurfs kommt es zu Leistungsverbesserungen von 1,2 Mrd. Euro durch die geringfügige Regelsatzerhöhung und die Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder. Dem gegenüber stehen Leistungskürzungen von 3,3 Mrd. Euro alleine für die wegfallenden Rentenbeiträge, Streichung von Elterngeld und befristetem Zuschlag sowie Kürzungen bei den arbeitspolitischen Integrationsleistungen. Unterm Strich werden damit 2,1 Mrd. Euro entzogen, statt 5 € Regelsatzerhöhung kommt es zu einem Budgetverlust von knapp 27 € pro Kopf. Die Umsetzung wird damit nicht die Teilhabe verbessern sondern soziale Ungleichheit verstärken. Die Armen werden abgehängt, die soziale Spaltung wird sich verschärfen.
Bei der Neubemessung des Regelsatzes wurden Vorgaben des BVerfG missachtet. So wurden etwa verdeckt Arme unterhalb des Hartz-IV-Niveaus nicht aus der Vergleichsgruppe heraus gerechnet. Mit statistischen Kniffen wurde der Betrag nach unten manipuliert. So wechselte man als Vergleichsgruppe von den unteren 20% zu den unteren 15% der Bevölkerung, die Hilfebedürftigen wurden also um eine Schicht nach unten abgesenkt. Mit der Streichung einzelner Bedarfe wie Genussmittel (Alkohol, Tabak), chem. Reinigung, Blumen, Haustiere u.a.m. wurden methodisch unzulässige Vermischungen von Statistik- und Warenkorbmodell vorgenommen und die Bedarfe verfälscht.
2. Gleiche Rechte und Gleichbehandlung vor dem Gesetz
Der Gesetzentwurf sieht eine Fülle von Sonderbehandlungen und Verkürzungen in der Rechtsstellung für Arme vor. Mit den bisher schon bestehenden Problemen wie armenspezifischem Stiefelternunterhalt, Auszugsverbot für unter 25-Jährige u.a.m. liegen Kennzeichen einer systematischen Entrechtung vor. Hierzu nur stichwortartige Beispiele:
– Rücknahme rechtswidriger Bescheide verkürzt von 4 auf 1 Jahr für Empfänger von SGB II / XII-Leistungen. Dem gegenüber bleibt es für alle anderen Sozialleistungen bei 4 Jahren.
– Darlehen sind Einkommen. Wäre diese Sichtweise steuerrechtlich ein Skandal, wird er in der Existenzsicherung angewandt; wenn die Darlehen nicht ausdrücklich einem anderen Zweck als dem Lebensunterhalt dienen. Wer z.B. bei Auszahlungsverzögerungen der Jobcenter Geld aus dem Freundeskreis leiht oder das Konto überzieht, kann damit die Hilfebedürftigkeit verlieren. Gleiches gilt etwa bei Darlehen der Wohlfahrtspflege zur Anschaffung von Zahnersatz, Haushaltsgeräten u.a.m.
– Übervorteilung bzgl. Rückzahlungspflicht / Erstattungsansprüchen gegenüber der Behörde. Bei als rechtswidrig erklärten kommunalen Satzungen zu den Unterkunftskosten kann die Behörde bei Überzahlung ohne Vertrauensschutz zurückfordern. Sie selbst muss aber bei zu niedriger Leistung für Zeiten vor der Entscheidung nichts nachzahlen (§ 40 Abs.2, Nr. 1 und 2 SGB II-E).
– Steuerfreie Aufwandsentschädigungen sind Einkommen. Dies betrifft insbesondere Ehrenamts- und Übungsleiterpauschalen. Damit sind die Anreize für (häufig praktizierte) ehrenamtliche Betätigung von Hilfebedürftigen offensichtlich nicht mehr gewollt.
3. Grundsicherungsleistungen müssen verlässlich vor Obdachlosigkeit schützen.
Im Gesetzentwurf werden Land- und Stadtkreise ermächtigt, die Angemessenheit von Wohnkosten, auch unterhalb der Vorgaben höchstrichterlicher Rechtsprechung, selbst festzulegen (s. z. B. § 22b(1) Ziff.1 des SGB II-E). Dabei darf die hohe Bandbreite von Mieten und Heizkosten sogar mit einer Pauschale abgegolten werden.
Mit der Ermächtigung reicht der Gesetzgeber damit eine ganz wesentliche Gestaltung des Grundrechts auf Existenzsicherung ohne ausreichende Vorgaben nach unten durch und es entsteht Gefahr, dass Stadt- und Landkreise in finanzieller Not die Angemessenheitsgrenzen so tief festlegen, dass Menschen in andere Kreise vertrieben werden, in prekäre Lebensverhältnisse geraten oder daraus Obdachlosigkeit entsteht. Der Bundesgesetzgeber hat deshalb im Rahmen seiner verfassungsgemäßen Einstandsverantwortung, auch nach Vorgaben des BVerfG vom 9 Feb 2010, Regelungsbereiche genau zu definieren, bevor er sie nach unten durchreicht. Genau diese Regelungen werden aber hier nicht getroffen, ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich geforderte Bestimmtheitsgebot.
Eine Pauschalierung von Wohnkosten erscheint zudem rein ökonomisch nur sinnvoll, wenn die allen zu gewährende Pauschale unter der bisherigen Höchstgrenze der Angemessenheit liegt. Damit aber würde eine große Zahl von Menschen in Gefahr von Wohnungsverlust geraten, die in bislang angemessenen Wohnungen leben. Auch würde sich das Mietniveau in angespannten Wohnungsmärkten schnell auf die Pauschalen einpendeln. Eine Pauschalierung der höchst unterschiedlichen Wohnkosten erscheint nicht sinnvoll.
4. Sanktionen als gravierender Eingriff ins Existenzminimum brauchen Rechtssicherheit
Von Sanktionen betroffen sind häufig Schwache, die von den Anforderungen überfordert werden, insbesondere z.B. auch depressive oder verhaltensgestörte Menschen sowie in besonderem Maße benachteiligte Jugendliche oder junge Erwachsene. Bei letzteren wird bereits bei der ersten Pflichtverletzung die Geldzahlung für drei Monate eingestellt, bei der zweiten Verletzung auch die Zahlung der Wohnkosten. In wie weit diese drakonischen Strafen mit den Vorgaben des Verfassungsgerichts nach einem Grundrecht auf Existenzsicherung und Teilhabe noch vereinbar sind, ist fraglich.
Um so mehr bedürfen diese gravierenden Einschnitte klaren Regeln. Sanktionen konnten bislang nach einer schriftlichen Belehrung über die Rechtsfolgen verhängt werden. Nunmehr soll es bereits genügen, "wenn der Leistungsberechtigte die Rechtsfolgen seines Verhaltens kannte. Der Nachweis über eine schriftliche Rechtsfolgebelehrung muss in diesem Fall nicht geführt werden" (S. 183 der Begründung zu § 31 SGB II-E).
Wie diese "Kenntnis" erworben wird – etwa durch Aushang im Flur oder weil der Mitarbeiter es in einem Halbsatz erwähnt -, bleibt völlig offen. Die Beweislast wird bei einem Eingriff, der das Existenzminimum gravierend unterläuft, umgekehrt und die schwammige Begründung wird eine große Zahl neuer Streitfälle auslösen. Diese Strafpädagogik des 19. Jahrhunderts entspricht weder den Anforderungen eines modernen Gesetzes noch sind die unklaren Bestimmungen bei existenzgefährdender Tragweite eines Rechtsstaats würdig.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit diesem Gesetzentwurf die Armen nicht nur materiell abgekoppelt sondern auch systematisch entrechtet werden. Sie werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Befürchtung, dass hier eine neue Randgruppe politisch gebildet wird, ist nicht unbegründet. (11.11.2010, Frieder Claus, Diakonisches Werk Württemberg)
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