Im Rahmen der derzeitigen Hartz IV-Debatte meldet sich nun auch Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts fรผr Wirtschaftsfรถrderung (kurz: DIW), zu Wort. Seiner Meinung nach, treffe diese Diskussion nรคmlich nicht den eigentlichen Kern des Problems unserer Sozialsysteme.
Die Debatte um Hartz IV eskaliert derzeit mal wieder und der DIW-Chef betont, dass man die Reformen nur allzu gern als Ursache fรผr steigende Armut, zunehmende Ungleichheit und soziale Polarisierung sehe. In Fratzschers Augen werde Hartz IV allerdings als Sรผndenbock fรผr Probleme missbraucht, deren Ursprung woanders liege und die Andere zu verantworten haben. Er wirft ein, dass Niedriglรถhner derzeit nur unmittelbar mehr verdienen, als Hartz IV-Bezieher.
Unterstรผtzung statt Bestrafung
Vielmehr solle sich die Politik auf die Frage konzentrieren, wie sich Arbeit allgemein wieder mehr fรผr Menschen lohnen wรผrde und die Sozialsysteme in den derzeit wirtschaftlich starken Jahren zukunftsfest gemacht werden kรถnnen. Es seien durchaus einige gute Verbesserungsvorschlรคge genannt worden. Hรถhere Hartz IV-Sรคtze ohne Sanktionen, ein Garantiesystem statt Grundsicherung oder der Vorschlag, dass das Arbeitslosengeld so lange gezahlt werden mรผsse, wie sich jemand in Qualifizierung oder Fortbildung befinde, wรคren laut Fratzscher sehr groรzรผgige Verรคnderungen. Das Prinzip der Unterstรผtzung mรผsse an Stelle des Prinzips der Bestrafung in den Mittelpunkt der Sozialsysteme rรผcken. Man brauche einen Mentalitรคtswechsel hin zum Verstรคndnis, dass Menschen nicht aus Faulheit nicht arbeiten, sondern es aus gesundheitlichen Grรผnden nicht kรถnnen, beziehungsweise ihre Qualifikationen nicht zum gesuchten Job passen.
Anstieg der Niedriglรถhnerย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย ย
Nach Fratzschers Sichtweise, bedarf es demnach nicht nur einer Reform von Hartz IV, sondern einer Reform der Sozialsysteme. Denn viele Menschen, die von Armut betroffen sind, leben sehr wohl in Haushalten, in denen gearbeitet wird. Das Einkommen reicht allerdings nicht zum Leben aus. In den vergangenen 20 Jahren ist der Niedriglohnbereich stark angestiegen. Heute arbeiten rund 20 Prozent aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu niedrigen Lรถhnen und das hรคufig in prekรคren Beschรคftigungsverhรคltnissen. Selbst wenn man รผber 40 Jahre lang Vollzeit fรผr Mindestlohn arbeite, wรผrde man im Alter auf den Staat angewiesen sein. Zudem kommt, dass รผber 2 Millionen Menschen auf Mindestlohnbasis arbeiten, diesen aber gar nicht ausgezahlt bekommen, weil er vom Arbeitgeber umgangen werde.
Niedriglรถhner haben fast so wenig wie Hartz IV-Bezieher
Hรคufig arbeiten viele Menschen auch nur Teilzeit, weil ihr Arbeitgeber dies vorzieht und nicht, weil es sie es so mรถchten. Trotz allem ist es fรผr diejenigen oft erstrebenswerter, als gar nicht zu arbeiten, obwohl am Ende hรคufig weniger Geld fรผr sie rumkommt, als sie zum Leben benรถtigen. Offensichtlich beherbergt das Sozialsystem noch einige weitere Problemstellen. Dennoch sollte der Einwand, dass Niedriglรถhner fast genau so wenig Geld zur Verfรผgung haben, wie Hartz IV-Bezieher, nicht nur Erschrecken รผber niedrigen Lohn erwecken, sondern auch darรผber, wie wenig Geld Hartz IV-Beziehern tatsรคchlich zur Verfรผgung steht. Armut trotz Arbeit und Einkommen ist auf jeden Fall kritisch zu betrachten. Aber wie soll es dann denen gehen, die aus verschiedenen Grรผnden gar nicht arbeiten kรถnnen und deshalb auf Hartz IV angewiesen sind?