Jobcenter strich Bürgergeld trotz Angst und Attest

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R. – die Betroffene möchte ihren Namen nicht öffentlich machen – lebte seit Jahren mit ärztlich diagnostizierten Depressionen und Angststörungen. Ein Facharzt hatte dem Jobcenter schriftlich bestätigt, dass sie arbeitsunfähig ist.

Der Verein Sanktionsfrei schreibt: “R. lebt mit Depressionen und Angststörungen und ist deshalb arbeitsunfähig. Eine ärztliche Bescheinigung lag dem Jobcenter vor.”

Trotzdem stellte die Behörde Ende ihr Bürgergeld samt Mietanteil ein, weil sie auf mehrere Schreiben nicht geantwortet und einen Meldetermin verpasst hatte. Damit entfielen von einem Tag auf den anderen nicht nur ihr Lebensunterhalt, sondern auch die Warmmiete. Innerhalb weniger Wochen entstanden Mietrückstände; die Angstzustände verschärften sich, weil R. den Verlust der Wohnung fürchtete.

Jobcenter streicht Leistungen kürzen, obwohl ein ärztliches Attest vorliegt

Das Bürgergeld-Gesetz schreibt Leistungsberechtigten umfangreiche Mitwirkungspflichten vor. Wer Termine versäumt oder Unterlagen nicht rechtzeitig nachreicht, riskiert seit der Reform von Februar 2025 Sanktionen von bis zu 30 Prozent des Regelbedarfs; bei wiederholten „Meldeversäumnissen“ kann sogar die Unterkunftskostenübernahme zeitweilig entfallen.

Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht 2019 verfügt, dass Kürzungen, die das soziokulturelle Existenzminimum gefährden, nur in eng begrenzten Fällen zulässig sind.

Doch die Praxis zeigt: Selbst ärztliche Bescheinigungen schützen psychisch Erkrankte nicht zuverlässig vor drastischen Einschnitten. Viele Betroffene können Briefe oder Eingliederungsvereinbarungen schon aus Krankheitsgründen nicht fristgerecht bearbeiten – und genau dieses Versäumnis löst die Sanktion aus.

Anwaltsschreiben gegen Sanktionen
Quelle: Sanktionsfrei e.V.

Sanktion verstärken Ängste

Während die Gesetzesbegründung von „Motivationsanreizen“ spricht, schildern Betroffene und Beratungsstellen einen gegenteiligen Effekt: Leistungsstopps verstärken Gefühle von Ohnmacht und existenzieller Angst, verschlechtern den Gesundheitszustand und erhöhen das Risiko für Wohnungslosigkeit.

R.s Fall bestätigt diese Dynamik. Ohne Rücklagen musste sie zwischen Lebensmitteln, Heizkosten und Mietzahlung abwägen – Stressoren, die in der Depressionsforschung als Trigger für Krisen gelten.

Verein hilft gegen die Ohnmacht gegenüber dem Jobcenter

R. wandte sich an Sanktionsfrei e.V., einen gemeinnützigen Verein, der Betroffene unterstützt und gegen Sanktionen vorgeht. Der Anwalt, der von dem Verein engagiert wurde, stellte zunächst einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X – ein rechtliches Mittel, das auch nach Ablauf von Widerspruchsfristen rechtswidrige Bescheide korrigieren kann.

Wird darüber nicht zügig entschieden, bleibt der Weg in das einstweilige Rechtsschutzverfahren beim Sozialgericht, um eine schnelle vorläufige Auszahlung zu erzwingen. Genau diesen Weg beschritt die Anwältin – und das Gericht gab ihr Recht: R. erhält seit März 2025 wieder Bürgergeld samt rückwirkender Mietzahlungen.

Wie überbrückt man eine Leistungslücke, wenn Gerichte Wochen brauchen?
Weil Juristen wissen, dass selbst eilbedürftige Verfahren Zeit kosten, unterhält Sanktionsfrei einen „Solitopf“ – ein Crowdfunding-finanziertes Budget für zinslose Überbrückungshilfen. Daraus bekam R. einen Vorschuss, der die Miete sicherte und Lebensmittel finanzierte.

Vereine müssen Versagen der Jobcenter ausbügeln

Der Fall zeigt ein Paradox: Obwohl das Bürgergeld das Existenzminimum garantieren soll, braucht es zivilgesellschaftliche Hilfsfonds, um Lücken zu stopfen, die das System selbst erzeugt.

Vereine wie Sanktionsfrei füllen nicht nur finanzielle, sondern auch strukturelle Leerräume – etwa durch niedrigschwellige Beratung, psychosoziale Begleitung und strategische Prozessführung.