SGB II: Unterkunftskosten Alleinerziehender von Herbert Masslau
02.11.2012
Der Bundesgesetzgeber hat keine KdU-Kriterien erlassen, im Gegenteil, der Ermächtigungsparagraph 27 SGB II a.F. wurde abgeschafft mit Wirkung 1. April 2011. Statt selber konkrete Kriterien zu entwickeln, verstoßen die BSG-Entscheidungen zunehmend gegen das Willkürverbot Art. 3 Abs. 1 GG.
Wenn trotz Kritik [s. BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, Az.: B 4 AS 30/08 R, Rdnrn. 16 ff] auf die Länderbestimmungen (§ 10 WoFG, WFB’s) zurückgegriffen wird, dann müssen WoFG/WFB abstrakt so gelten, wie sie sind, dann kann nicht das BSG hingehen und die allgemeinen Flächen- und Personenzahlen nehmen, aber die Regelungen für Behinderte und Alleinerziehende verweigern bei der „abstrakten Angemessenheit“ – das ist wider Art. 3 Abs. 1 GG, weil es sich nicht sachlich begründen läßt und weil hier, so die Konsequenz aus BSG, Urteil vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R, eine Mischung aus pauschaler Regelung als „abstrakte Angemessenheit“ und subjektiver Regelung als „Härtefall“ konstruiert wird, die sich so nicht aus der Anwendung der WoFG/WFB herleiten läßt.
Im Übrigen würde die Härtefallregelung [stellvertretend: BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, Az.: B 4 AS 30/08 R, Rdnr. 35] nur im spezifischen Einzelfall greifen, nicht jedoch pauschal für alle Alleinerziehenden gelten, und, sie würde die vermeintlich unangemessene Wohnung im Einzelfall übernehmbar machen, jedoch den Alleinerziehenden nicht generell schon bei der „abstrakten Angemessenheit“ eine größere Wohnfläche, die immerhin in das Produkt aus Wohnfläche und Quadratmeterpreis eingehen würde, zugestehen.
Wenn also wegen der sog. Wohnzimmerregelung Alleinerziehenden – und Behinderten wegen Beweglichkeit – Mehrflächenbedarf zuzugestehen ist und in den WFB zugestanden wird, dann muß dies auch im Rahmen des SGB II gelten, solange mangels anderer Kritierien auf die WFB zurückgegriffen wird, oder das BSG darf die länderspezifischen WoFG/WFB-Regelungen nicht seiner Rechtsprechung zugrunde legen.
Und, das BSG hat mit seiner Entscheidung B 14 AS 13/12 R die Grundsicherungsträger wie die Hilfebedürftigen im Dunkeln stehen lassen: Muß eine pubertierende Tochter mit ihrem alleinerziehenden Vater in einem gemeinsamen Schlafzimmer schlafen, damit noch ein Wohnzimmer möglich ist? Oder muß das Kindergarten- oder Schulkind auf Geburtagsfeiern verzichten, weil es ein eigenes Zimmer hat und die Mutter auch und deswegen kein Wohnzimmer zum Gästeempfang existiert? Mit derlei Fragen, die sich zwangsläufig aufdrängen, hat sich das BSG nicht auseinandergesetzt. Allein schon deswegen ist die BSG-Entscheidung B 14 AS 13/12 R willkürlich.
Diese grundrechtswidrige Willkür des BSG wurde schon vorher deutlich, und zwar mit BSG, Urteil vom 22. März 2012, Az.: B 4 AS 16/11 R.
Hatte das BSG bis dahin seine KdU-Rechtsprechung zunehmend konkretisiert bis hin zu einem Kriterienkatalog für die Ermittlung der „Referenzmiete“ [BSG, Urteil vom 22. September 2009, Az.: B 4 AS 18/09 R, Rdnr. 19; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 23; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, B 4 AS 27/09 R, Rdnr. 26], so hat es mit der Entscheidung B 4 AS 16/11 R seine eigene Rechtsprechung torpediert, denn die Folge dieser Entscheidung wird sein, daß die Grundsicherungsträger die „abstrakte Angemessenheit“ erst gar nicht mehr ermitteln, sondern gleich die um einen 10%-igen Sicherheitsaufschlag erhöhten Tabellenwerte WoGG anwenden werden.
Schon in meinen eigenen Klagen, in meinem Artikel „Bundessozialgericht torpediert eigene Rechtsprechung zu den Unterkunftskosten für ‚Hartz IV-Empfänger/innen’“ vom 15 April 2012 und in der Zeitschrift info also 1/2012, S. 32 hatte ich die Rechtsfrage aufgeworfen, ob, wie im Falle Göttingen, die Anwendung der Tabellenwerte WoGG auch im Falle der (faktischen) Ermittlungsverweigerung gelten kann. Auch dieses Problem hat das BSG zulasten der Hilfebedürftigen und zugunsten der Grundsicherungsträger unberücksichtigt gelassen. Auch dies ein eindeutiger Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG.
Gegen diese menschenverachtende BSG-Rechtsprechung zu den KdU hilft nur noch der Weg, welchen das SG Mainz aufgezeigt hat [SG Mainz, Urteil vom 8. Juni 2012, Az.: S 17 AS 1452/09], nämlich unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die KdU – eigentlich Teil der Regelleistung bei den EVS, die aber im SGB II gesondert neben der Regelleistung erbracht werden – wie die Regelleistung und die medizinische Versorgung Teil des menschenwürdigen Existenzminimums sind [s. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a., Rdnrn. 135, 148] und deshalb die Festlegung der KdU aufgrund einer durch den Bundesgesetzgeber hinreichend bestimmten Grundlage erfolgen müßte, nämlich „realitätsgerecht und nachvollziehbar in einem transparenten und sachgerechten Verfahren“. Das SG Mainz folgert: „Unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II sind die Aufwendungen für eine Unterkunft daher erst dann, wenn die Kosten deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.“
Dahinter steckt die berechtigte Frage, ob wirklich eine Familie z.B. aus einer 87 m2; großen Wohnung vertrieben werden darf [bei gleichem Quadratmeterpreis], nur weil lediglich 85 m2; „abstrakt angemessen“ sind. Ist Menschenwürde nur der Schutz vor Obdachlosigkeit oder gehört dazu nicht auch ein gewisser Erhalt des sozialen Umfeldes? Schließlich wird bei der Regelleistung ja auch über das physische Existenzminimum hinaus eine sozio-kulturelle Komponente berücksichtigt. Zu sagen wie das BSG, Berlin sei ein einheitlicher Vergleichsraum und einem Kind sei es zuzumuten, um seine bisherigen Freunde und Nachbarskinder zu besuchen, eine halbe Stunde mit der S-Bahn zu fahren, ist nicht nur realitätsfremd, die Beziehungen werden zerstört, sondern auch menschenverachtend. (Autor Herbert Masslau, Frei zum nicht-kommerziellen Gebrauch)
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